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Betriebsrat kann elektronische Zeiterfassung erzwingen

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Zu dieser Auffassung ist zumindest das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm in einer aufsehenerregenden Entscheidung vom 27. Juli 2021 (7 TaBV 79/20) gelangt.

1. Bislang galt: kein Initiativrecht bei der Einführung technischer Einrichtungen

Bereits seit vielen Jahren wird darüber diskutiert, ob dem Betriebsrat bei der Einführung und Anwendung technischer Einrichtungen im Sinne von § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ein Initiativrecht zusteht. Nach dieser Vorschrift hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht bei der Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Beschäftigten zu überwachen. Grundsätzlich beinhalten die Mitbestimmungsrechte nach § 87 Abs. 1 BetrVG auch ein Initiativrecht des Betriebsrats, d.h. sowohl der Arbeitgeber als auch der Betriebsrat können die Initiative für eine erstrebte Regelung ergreifen und zu deren Herbeiführung erforderlichenfalls die Einigungsstelle anrufen. Wie das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einer älteren Entscheidung aus dem Jahr 1989 (BAG v. 28.11.1989 – 1 ABR 97/88) zutreffend festgestellt hat, besteht ein solches Initiativrecht jedoch nicht im Zusammenhang mit § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG. Der Betriebsrat kann danach nicht die Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung verlangen und ggf. über den Spruch einer Einigungsstelle erzwingen. Sinn des Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG sei es schließlich, Eingriffe in den Persönlichkeitsbereich der Beschäftigten durch Verwendung anonymer technischer Kontrolleinrichtungen nur bei gleichberechtigter Mitbestimmung des Betriebsrats zuzulassen. Dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats komme insoweit eine Abwehrfunktion zu. Dieser Zweckbestimmung widerspreche es jedoch, wenn der Betriebsrat selbst – gleich aus welchen Gründen – die Einführung einer solchen technischen Kontrolleinrichtung verlange.

Die ganz herrschende Auffassung in der juristischen Literatur hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen. Der Betriebsrat kann dementsprechend weder die Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung verlangen noch sich gegen deren Abschaffung wenden. Lediglich Änderungen bestehender Kontrolleinrichtungen kann der Betriebsrat initiieren.

2. Der berühmte Paukenschlag: dieses Mal aus Hamm

Abweichend hiervon hat das LAG Hamm in der genannten Entscheidung vom 27.7.2021 nun festgestellt, dass dem Betriebsrat bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung ein Initiativrecht zusteht. In dem zugrunde liegenden Fall hatten die Betriebsparteien über mehrere Monate Verhandlungen über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung geführt. Nachdem eine Einigung nicht zustande gekommen war, entschlossen sich die Arbeitgeberinnen, auf die Einführung der geplanten elektronischen Zeiterfassung zu verzichten. Im Rahmen der sodann vom Betriebsrat eingesetzten Einigungsstelle rügten die Arbeitgeberinnen deren Zuständigkeit, da ein Initiativrecht des Betriebsrats bei technischen Einrichtungen nicht bestehe. Daher könne er auch nicht die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung erzwingen. Die Einigungsstelle beschloss daraufhin, dass Einigungsstellenverfahren auszusetzen und diese Frage gerichtlich klären zu lassen.

Das Arbeitsgericht Minden folgte der Auffassung der Arbeitgeberinnen und verneinte ein Initiativrecht. Zur Begründung verwies es im Wesentlichen auf die Entscheidung des BAG aus dem Jahr 1989. Das LAG Hamm hat diese Entscheidung überraschend abgeändert und in Abkehr von der herrschenden Auffassung ein Initiativrecht angenommen. Begründet wird dies zunächst mit dem Wortlaut des Einleitungssatzes von § 87 Abs. 1 BetrVG („mitzubestimmen“) und § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG („Einführung“). Mitbestimmung „im Wortsinne“ beschreibe das Recht auf Mitgestaltung im Sinne gleichwertiger Verhandlungspartner. Die Ausübung der Mitbestimmung als reines „Vetorecht“ komme insoweit nicht in Betracht. Dementsprechend entspreche es der herrschenden Auffassung, dass im Sinne eines Mitgestaltungsrechts grundsätzlich auch dem Betriebsrat die Initiative zukommen könne, in mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten Verhandlungen aufzunehmen und zu verlangen. Zwar werde nicht verkannt, dass das BAG in dem genannten Beschluss vom 28.11.1989 ein Initiativrecht des Betriebsrats bei der Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung abgelehnt habe. Zum einen sei die Entscheidung aber kritisiert worden, zum anderen erfordere der Rückgriff auf den Sinn und Zweck des Mitbestimmungsrechts eine hiervon abweichende Auslegung.

3. Folgen für die Praxis

Die vorgenannte Entscheidung des LAG Hamm hat zweifelsohne Sprengkraft. Schließlich beschränken sich die Entscheidungsgründe nicht auf die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung. Vielmehr kann der Betriebsrat nach dieser Entscheidung stets die Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung verlangen und ggf. über den Spruch einer Einigungsstelle erzwingen. Führt man sich vor Augen, dass technische Einrichtungen im Sinne von § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG nach der Rechtsprechung bereits solche sind, die objektiv zur Überwachung der Beschäftigten geeignet sind – was aufgrund der Log-Dateien schon auf „einfache“ Schreibprogramme zutrifft –, könnten sich Unternehmen künftig unzähligen Initiativen von Betriebsräten ausgesetzt sehen – sei es zur Einführung einer IT-Anlage, sei es zur Einführung eines Betriebssystems oder eines Office-Systems.

Nicht zuletzt aufgrund des wegweisenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14.5.2019 (C-55/18 – CCOO, ArbRB 2019, 162 [Marquardt]) kommt der Entscheidung im Bereich der Zeiterfassung zudem noch einmal besondere Bedeutung zu. Zwar kann der Betriebsrat nach Auffassung des BAG schon jetzt verlangen, über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit so informiert zu werden, dass er die Einhaltung der gesetzlichen Höchstarbeitszeit überprüfen kann. Diese Auskünfte hat der Arbeitgeber selbst dann zu erteilen, wenn er Vertrauensarbeitszeit gewährt und deshalb die Arbeitszeiten der Beschäftigten eigentlich nicht erfassen und nicht zur Kenntnis nehmen will. Die Art und Weise, wie die Arbeitszeit dokumentiert wird, unterfällt jedoch der Entscheidung des Arbeitgebers. Auch der EuGH verweist in der genannten Entscheidung auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Arbeitszeiterfassung. Hat sich der Arbeitgeber für eine Aufzeichnung in Papierform entschieden, könnte der Betriebsrat künftig gleichwohl eine elektronische Zeiterfassung durchsetzen.

Gegen die Entscheidung des LAG Hamm wurde Rechtsbeschwerde beim BAG eingelegt (1 ABR 22/21). Es bleibt zu hoffen, dass das BAG seiner Rechtsprechung aus dem Jahr 1989 treu bleibt.

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