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Vollharmonisierung versus Zersplitterung des Rechts: Darf der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung von Richtlinien über EU-Vorgeben hinausgehen?

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Zugleich Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 22.6.2022 – C-534/20 (Betriebsbedingte Kündigung einer internen Datenschutzbeauftragten)

Immer dann, wenn auf europäischer Ebene Richtlinien erlassen werden, bedürfen diese nach Art. 288 Abs. 3 AEUV noch einer Umsetzung in das deutsche Recht. Bekannte Beispiele hierfür sind derzeit die Richtlinie (EU) 2019/1152 vom 20.6.2019 über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union im Bereich des Zivilrechts, kurz Arbeitsbedingungenrichtlinie genannt, und die Richtlinie (EU) 2019/1937 des europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, kurz Hinweisgeberrichtlinie genannt.

Europäische Verordnungen gelten nach Art. 288 Abs. 2 AEUV zwar unmittelbar in den Mitgliedstaaten; teilweise enthalten sie aber Öffnungsklauseln, die den Mitgliedstaaten Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. Bekanntestes Beispiel hierfür ist Art. 88 DSGVO. Die Mitgliedstaaten können demnach spezifischere Vorschriften zur Gewährleistung des Schutzes der Rechte und Freiheiten hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Beschäftigtendaten im Beschäftigungskontext schaffen.

Die arbeitsrechtliche Frage
In diesen Fällen stellt sich die Frage, ob derartige europäische Vorgaben lediglich Mindestbedingungen enthalten, so dass der deutsche Gesetzgeber auch Verschärfungen vornehmen darf oder ob derartige Abweichungen „nach oben“ nicht möglich sind, weil eine Vollharmonisierung des Rechts in den Mitgliedstaaten bezweckt wird. In der Literatur ist dies umstritten. (für eine Vollharmonisierung z.B. Kühling/Buchner-Maschmann, DS-GVO BDSG, 3. Aufl., Art. 88 DS-GVO Rz. 30 ff.; a.A. u.a. Düwell/Brink, NZA 2016, 665).

Die Entscheidung des EuGH
Anlass zur Beantwortung dieser Frage gab ein vor dem EuGH anhängiges Verfahren, in dem es um die betriebsbedingte Kündigung einer internen Datenschutzbeauftragten ging. Aufgrund der durch Art. 88 DSGVO eingeräumten Möglichkeit, auf nationaler Ebene durch Rechtsvorschriften spezifischere Vorschriften zu schaffen, sieht § 6 Abs. 4 BDSG vor, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Datenschutzbeauftragten unzulässig ist, es sei denn, dass Tatsachen vorliegen, welche die öffentliche Stelle zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen. § 38 Abs. 2 BDSG erstreckt diese Regelung des öffentlichen Dienstes auch auf die Privatwirtschaft. Das europäische Recht sieht hingegen in Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO großzügigere Möglichkeiten für Arbeitgeber vor, das Arbeitsverhältnis zu beenden. Demnach sind sie lediglich gehindert, Datenschutzbeauftragte wegen der Erfüllung ihrer Aufgaben abzuberufen oder zu benachteiligen. Betriebsbedingte Kündigungen sind damit gerade nicht erfasst.

Der EuGH spricht sich nun in einem Urteil vom 22.6.2022 – C-534/20 gegen eine Vollharmonisierung aus und erlaubt dem nationalen Gesetzgeber, strengere Regeln zu schaffen als dies nach der DSGVO notwendig gewesen wäre. Allerdings trifft das Gericht keine allgemeine Aussage. Es begründet dies im Wesentlichen damit, dass es bei der Festlegung von Vorschriften zum Kündigungsschutz eines bei einem Verantwortlichen oder einem Auftragsverarbeiter beschäftigten Datenschutzbeauftragten weder um den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten noch um den freien Datenverkehr, sondern allein um Sozialpolitik gehe. In diesem Bereich hätten die Union und die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 2 Buchstabe b AEUV hinsichtlich der im AEUV genannten Aspekte eine geteilte Zuständigkeit. Außerdem unterstütze und ergänze die Union nach Art. 153 Absatz 1 AEUV die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Arbeitnehmerschutzes bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Richtig ist insoweit, dass sozialpolitische Richtlinien nach Art. 153 Abs. 2 Unterabsatz 1 Buchstabe b Satz 1 AEUV lediglich Mindestvorschriften enthalten dürfen.

Die Folgen der Entscheidung
Der EuGH sieht damit entsprechende Richtlinien und Verordnungen auf europäischer Ebene hinsichtlich der Regelungsmöglichkeiten auf nationaler Ebene nicht als Einheit, sondern differenziert innerhalb der Regelungskomplexe nach den Zuständigkeiten auf europäischer und nationaler Ebene. Im Ergebnis wird damit keine Vollharmonisierung erreicht, sondern eine Zersplitterung des Rechts in den verschiedenen Mitgliedstaaten ermöglicht.

Es muss deshalb auch bezweifelt werden, ob mit Aussicht auf Erfolg im Zusammenhang mit der Umsetzung der Arbeitsbedingungenrichtlinie in nationales Recht erfolgreich geltend gemacht werden kann, der nationale Gesetzgeber sei nicht berechtigt gewesen, in § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG n.F. für die Niederschrift die Schriftform vorzusehen, obwohl die Arbeitsbedingungenrichtlinie in ihrem Art. 3 ausdrücklich die Bereitstellung der erforderlichen Informationen in „Papierform oder – sofern die Informationen für den Arbeitnehmer zugänglich sind, gespeichert und ausgedruckt werden können und der Arbeitgeber einen Übermittlungs- oder Empfangsnachweis erhält – in elektronischer Form“ erlaubt. Somit setzt die Richtlinie zwar noch nicht einmal die elektronische Form des § 126a BGB voraus, sondern lässt sogar die Textform (§ 126b BGB) unter Voraussetzung eines Übermittlungs- und Empfangsnachweises genügen. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde der EuGH aber argumentieren, zumindest für Formvorschriften besitze er nach Art. 153 Abs. 2 Unterabsatz 1 Buchstabe b Satz 1 AEUV nicht die notwendige bindende Zuständigkeit, so dass der deutsche Gesetzgeber berechtigt gewesen sei, im Vergleich zur Arbeitsbedingungenrichtlinie strengere Vorschriften zu erlassen.

Hinweis der Redaktion
In der nächsten Ausgabe des Arbeits-Rechtsberaters (ArbRB) lesen Sie eine Analyse des EuGH-Urteils vom 22.6.2022 (Rs. C-534/20) über die betriebsbedingte Kündigung einer internen Datenschutzbeauftragten von Prof. Dr. Martin Reufels.

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