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Neue Urlaubsrechtsprechung des EuGH – Teil I: Automatischer Verfall von Urlaubsansprüchen zum Jahresende ist europarechtswidrig

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Am 6.11.2018 hat der EuGH in zwei Vorabentscheidungsverfahren zu den Verfallsregeln des deutschen Urlaubsrechts entschieden (C-619/16, C-684/16). Der Tenor dieser Entscheidungen: Ein grundsätzlicher automatischer Verfall nicht genommener Urlaubsansprüche zum Jahresende, wie ihn § 7 Abs. 3 BUrlG eigentlich vorsieht, ist europarechtswidrig. Nicht genommener Urlaub müsste also uneingeschränkt auf das Folgejahr übertragen werden. Die Entscheidungen lassen allerdings zwei Hintertürchen.

Seit Inkrafttreten des Bundesurlaubsgesetzes am 8.01.1963 war es ständiges Grundprinzip des deutschen Urlaubsrechts: Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr genommen werden (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG), sonst verfällt er. Nur im Ausnahmefall, nämlich wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen, konnte der Urlaubsanspruch auf das Folgejahr übertragen werden (§ 7 Abs. 3 Satz 2 BurlG). Aber auch dann verfällt der Urlaubsanspruch spätestens zum 31.3. des Folgejahres (§ 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG).

Diese Regelung erleichterte für Arbeitgeber die Personal- und Wirtschaftsplanung erheblich und ermöglichte es, Urlaubsrückstellungen für das laufende Jahr grundsätzlich zum Jahrsende aufzulösen. Sie verhindert zudem, dass besonders arbeitsfreudige Arbeitnehmer von Jahr zu Jahr immer höhere Resturlaubsbestände aufbauen, die mit jeder Gehaltserhöhung zunehmend an Wert gewinnen.

In zwei gerichtlichen Verfahren, in denen es um den Verfall von Resturlaubsansprüchen ging, hatten das BAG und das OVG Berlin-Brandenburg die Rechtsvorschrift des § 7 Abs. 3 BUrlG dem EuGH zur Vorabentscheidung (Art. 267 AEUV) vorgelegt. In seinen Entscheidungen vom 6.11.2018 befand der EuGH, dass ein automatischer Verfall von Urlaubsansprüchen zum Jahresende gegen vorrangiges Europarecht verstoßen würde. Nach Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG hat jeder Arbeitnehmer einen Anspruch auf einen Mindesturlaub von vier Wochen. Nach Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta hat jeder Arbeitnehmer das Recht auf bezahlten Jahresurlaub. Nach (verbindlicher) Auffassung des EuGH würde ein automatischer Verfall von Urlaubsansprüchen zum Jahresende diese europarechtlichen Vorgaben verletzen.

Allerdings machte der EuGH eine wichtige Einschränkung. Wörtlich schreibt er:

„Wie auch der Generalanwalt in den Nrn. 41 bis 43 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist der Arbeitgeber in Anbetracht des zwingenden Charakters des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub und angesichts des Erfordernisses, die praktische Wirksamkeit von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 zu gewährleisten, u. a. verpflichtet, konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun, und ihm, damit sichergestellt ist, dass der Urlaub ihm noch die Erholung und Entspannung bieten kann, zu denen er beitragen soll, klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht nimmt, am Ende des Bezugszeitraums oder eines zulässigen Übertragungszeitraums verfallen wird.

Die Beweislast trägt insoweit der Arbeitgeber. Kann er nicht nachweisen, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, verstießen das Erlöschen des Urlaubsanspruchs am Ende des Bezugs- oder zulässigen Übertragungszeitraums und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – das entsprechende Ausbleiben der Zahlung einer finanziellen Vergütung für den nicht genommenen Jahresurlaub gegen Art. 7 Abs. 1 und gegen Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88.“

Eine nationale Regelung wäre also europarechtskonform, wenn sie den Verfall von Urlaubsanspruch nur dann anordnete, sofern der Arbeitgeber den Arbeitnehmer förmlich aufgefordert hatte, seinen Urlaub zu nehmen, und ihn über die Folgen belehrt hat, wenn er dies nicht tut.

Dies bedeutet wohlgemerkt noch nicht automatisch, dass der Urlaubsanspruch verfällt, wenn eine solche Aufforderung und Belehrung stattgefunden hat. Dies wäre nur der Fall, wenn sich § 7 Abs. 3 BUrlG europarechtskonform auslegen ließe und zwar in der Weise, dass diese zusätzlichen Verfallsvoraussetzungen in die Vorschrift hineingelesen werden. Ob § 7 Abs. 3 BUrlG dieser europarechtskonformen Auslegung zugänglich ist, hat der EuGH nicht entschieden. Stattdessen ist es nach der Zurückverweisung Sache des BAG, über die Möglichkeit einer europarechtskonformen Auslegung zu entscheiden. Verneint das BAG diese Möglichkeit, wäre § 7 Abs. 3 BUrlG europarechtswidrig und unanwendbar und Urlaubsansprüche würden generell nicht mehr verfallen.

Allerdings ist sehr wahrscheinlich, dass das BAG die europarechtskonforme Auslegung zulässt. Bereits im Umgang mit der Übertragbarkeit des Urlaubs von Langzeiterkrankten hatte sich das BAG bei der europarechtskonformen Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG ausgesprochen großzügig gezeigt (vgl. BAG, Urt. v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, juris Rz. 57, ArbRB 2009, 159 [Lunk]).

Wir empfehlen allen Arbeitgebern, die folgenden Maßnahmen zu ergreifen, um den Verfall von Urlaubsansprüchen zu ermöglichen:

  • Arbeitgeber sollten alle Arbeitnehmer mit einigem zeitlichen Vorlauf vor Jahresende förmlich auffordern, ihren Resturlaub zu nehmen und sie gleichzeitig über die Möglichkeit eines Verfalles belehren. Nähme das BAG die vom EuGH nahegelegte europarechtskonforme Auslegung vor, würden Urlaubsansprüche verfallen, wenn Arbeitnehmer sie trotz Aufforderung und Belehrung nicht nehmen. Einen Entwurf hierfür werden wir im zweiten Teil dieser kleinen Blog-Serie zur Verfügung stellen.
  • Zwingend gilt die Rechtsprechung des EuGH nur für den gesetzlichen (§ 3 BUrlG) und europarechtlichen (vgl. Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG) Mindesturlaub von vier Wochen (d.h. bei einer Vollzeitkraft von 20 Tagen). Für den weitergehenden vertraglichen Mehrurlaub dürfte die Rechtsprechung nur dann gelten, wenn arbeitsvertraglich oder in einer Betriebsvereinbarung keine andere Regelung getroffen ist. Der Arbeitgeber kann deshalb im Arbeitsvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung regeln, dass der vertragliche Mehrurlaub gleichwohl verfällt. Da genommener Urlaub zunächst auf den gesetzlichen Urlaub angerechnet wird, bleibt am Jahresende aber typischerweise meist nur vertraglicher Mehrurlaub übrig. Deshalb kann der Arbeitgeber auf diese Weise den weitgehenden Verfall von Urlaubsansprüchen sicherstellen. Eine diesbezügliche Formulierungshilfe stellen wir mit dem dritten und letzten Teil dieser Blog-Serie zur Verfügung.

RA FAArbR Dr. Detlef Grimm und RA Dr. Jonas Kühne, Loschelder Rechtsanwälte, Köln

Weitere Beiträge zum Thema:

Neue Urlaubsrechtsprechung des EuGH – Teil II: Arbeitgeberrundschreiben zum Urlaubsanspruch

Neue Urlaubsrechtsprechung des EuGH – Teil III: So regeln Sie den Verfall des vertraglichen Mehrurlaubs

RA FAArbR Dr. Detlef Grimm ist Partner bei Loschelder Rechtsanwälte, Köln. Er gehört zum festen Autorenteam des Arbeits-Rechtsberaters und ist Mitautor des Arbeitsrecht Handbuchs (Hrsg. Tschöpe) sowie des Handbuchs Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst (Hrsg. Groeger).

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