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Kafka und § 17 KSchG: Zur Erkennbarkeit von Sanktionen im Gesetz

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I. Kafka 2024

Im „Kafka-Jahr“ bot das Hamburger Thalia-Theater auch diesen Monat generationsübergreifend einen besonders niederschwelligen Zugang zum Thema „Justiz“ an. Die Hauptrolle des „Josef K.“ spielt in der dortigen aktuellen Inszenierung von Franz Kafka’s „Der Process“ Merlin Sandmeyer. Für die Generation der Baby-Boomer ist das der Boy Gobert-Preisträger 2019. Für die Gen Z ist das natürlich Jonas Schulze, der Ladendetektiv von „Kolinski Altona„, dem Schauplatz des deutschen Erfolgs-Mockumentary „Die Discounter„.

Ob Anwalt, Jurastudent, Gerichtsdiener oder Untersuchungsrichter: Die Akteure des Stücks sind zwar alle viel mit sich selbst und zuweilen – auf allen nur erdenklichen Ebenen- auch miteinander beschäftigt. Die berechtigte Frage von „Josef. K.“, was ihm denn eigentlich vorgeworfen werde, beantworten sie ihm jedoch alle nicht, so sehr er sich auch durchgängig darum bemüht. Sanktioniert wird sein Handeln am Ende aber trotzdem und zwar mit der Höchststrafe.

Das dort von Kafka so gezeichnete Bild vom „Justizbetrieb“ führt – bei einem generationsübergreifenden Besuch – zwangsläufig zu Rückfragen. Insbesondere, ob es – je oder noch immer- mit der Realität übereinstimmt(e). Die Antwort mag auf den ersten Blick einfach ausfallen: Es waren andere Zeiten. Es war ein anderes Rechtssystem. Und im Social Media Zeitalter sollten sich solche Ungerechtigkeiten weitaus schwieriger unter den Tisch kehren lassen als ggf. vor mehr als 100 Jahren.

Gleichwohl verbleibt ein Rest von Irritation. Warum zeichnet eigentlich Kafka – als promovierter und bis zu seiner Lungenerkrankung in Vollzeit, vor allem auch vor Gericht tätiger Jurist- ein durchgängig so negatives Bild von sämtlichen Akteuren im Justizbetrieb? Und gab es nicht auch damals bereits klare gesetzliche Regelungen?

II. § 17 KSchG

Ein paar Tage später bereitete ich meine Vorlesung „Umstrukturierung“ für den Master Kurs „Human Resource Management“ vor. Es geht diesmal um das Verfahren der Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG. Um dieses komplexe – und für Nichtjuristen zuweilen etwas trockene – Thema etwas eingängiger zu gestalten, starten die slides seit jeher mit denselben zwei niederschwelligen Fragen und Antworten.

Warum ist das Ganze wichtig?

Weil anderenfalls alle Kündigungen unwirksam sind.

Warum ist das Ganze kompliziert?

Weil sich das genaue Zusammenspiel von Europarecht und nationaler Umsetzung nicht 1:1 aus dem Gesetz erschließt und zudem einer steten Dynamik unterliegt.

Die daran anschließende Detailausführungen werden zur Auflockerung dann insbesondere durch ein paar Praxis-Beispiele ergänzt.

1. Aktuelle Entwicklungen

Seit der letzten Vorlesung vor einem Jahr hatte sich viel getan. Der 6. Senat hat mit dem Vorlagebeschluss vom 14.12.2023 (Az. 6 AZR 157/22 (B)) eine Anfrage an den 2. Senat gerichtet. Er fragt, ob dieser weiter daran festhalten wolle, dass eine Kündigung unwirksam ist, wenn bei ihrer Erklärung keine wirksame Anzeige nach § 17 KSchG Abs. 1, Abs. 3 KSchG an die Agentur für Arbeit vorliegt. Mit Urteil vom 13.07.2023 (Az. C-134/22) hatte der EuGH bereits zuvor in diese Richtung gewiesen. Der 6. Senat wiederum hielt es – anders als der 2. Senat – für erforderlich, mit dem Vorlagebeschluss vom 1.2.2024 (Az. 2 AS 22/23 (A)) u.a diese Frage zunächst dem EuGH stellen. In seinem aktuellen Vorlagebeschluss skizziert der 2. Senat zudem, wie er sich eine künftige Handhabung vorstellen kann. Im Kern läuft es darauf hinaus, dass die Kündigungen auch ohne vorherige Ankündigung nicht zwingend unwirksam sind. Vielmehr sind sie in ihrer Rechtswirkung solange gehemmt, bis die Anzeige erstattet ist.

2. Die Rechtslage zu Beginn meiner anwaltlichen Tätigkeit

Ich erinnere mich – auf der Suche nach einem Praxisbeispiel für die Vorlesung – an meine erste eigenständig betreute kleinere Restrukturierung und den damaligen Umgang mit § 17 KSchG. Etwas, das meist gegen Ende noch miterledigt werden musste, damit – mit Blick auf das Hinausschieben der Kündigungsfristen bei nicht erfolgter Anzeige – kein finanzieller Schaden eintrat, der aber immer überschaubar blieb, weil damals die Unwirksamkeit der Kündigungen noch nicht im Raum stand.

3. Daran anschließende Entwicklungen

All dies änderte sich mit der „Junk-Entscheidung“ des EuGH vom 27.1.2005 (Az. C-188/03). Dutzende Entscheidungen und unzählige Stellungnahmen folgten, was aus diesem Grund bei einer risikolosen Erstellung zu berücksichtigen sei. Auch diese Ratschläge konnten allerdings oft nichts daran ändern, das am Ende überraschenderweise doch etwas unberücksichtigt blieb und so alle, in der Regel bereits Monate zurückliegenden Kündigungen unwirksam waren. Eines dieser Highlights: Die vom Arbeitgeber übersehene Sammelanzeige gemäß der internen „Fachlichen Weisungen KSchG zu § 17 Nr. 2.2.3. Abs. 4 und Abs. 5 der Agentur für Arbeit“, die der 6. Senat des BAG bspw. in seiner Entscheidung vom 13.2.2020 (Az. 6 AZR 146/19) heranzog.

4. Die Rechtgrundlage für all dies – damals wie heute: § 17 KSchG und ME-RL 98/58 EG

Je nach Ansatz (1. bzw. nunmehr 3. oder 2.) führt dies in einem identischen Fall je nach zeitlicher Lage entweder zu gar keinem oder einem in der Regel sechs- bis siebenstelligen Schaden.

Ich überlegte daher kurz, was in den jeweiligen Zeiträumen bis einschließlich heute die maßgebliche Rechtgrundlage war. In Deutschland waren und sind es die §§ 17 ff. KSchG. Auf europäischer Ebene war und ist es die ME-RL 98/58 EG. Der Wortlaut beider Rechtsgrundlagen war seit dem Beginn meiner anwaltlichen Tätigkeit unverändert gebelieben.

Die Gesetzeslage -also letztlich das, was der Staat dem Bürger mit auf den Weg gibt – hatte sich damit also trotz zweifacher Kehrtwende zu keinem Zeitpunkt geändert.

Sollte ich das in der Vorlesung auch erwähnen? Ich beschloss natürlich unmittelbar, dies nicht zu tun. Es würde wohl nur für noch mehr Verwirrung über Juristen und ihre Herangehensweise an Problemlösungen führen – und dies bei einem ohnehin komplexen Thema. Das eigentliche, eingangs erwähnte Lernziel dürfte sich eher über einfache Fragen und Antworten erreichen lassen.

III. Rückschlüsse aus Kafka und § 17 KSchG?

Im Fortgang muss ich allerdings trotzdem unweigerlich an „Josef K.“ denken. Ein Gedanke, der blieb.

Wie kann es eigentlich sein, dass es knapp 20 Jahre dauert, um zu erkennen, dass eigentlich doch alles so bleiben kann, wie es eigentlich immer war? Zumindest für den Teil des § 17 KSchG, der nicht die Konsultation mit den Mitarbeitervertretungen betrifft? Vor allem dann, wenn das Ganze so erhebliche finanzielle Folgen nach sich zieht? Und vor allem, wenn die normativen Vorgaben auf allen Ebenen durchgängig dieselben waren bzw. sind?

In Zeiten, in denen der Rechtstaat bzw. die „rule of law“ wie auch das europäische Modell mittlerweile auch in vielen Mitgliedstaaten der EU schwer unter Beschuss stehen, sollte diese Frage nicht offenbleiben. Auch wenn sie auf den ersten Blick – mit der ME-RL – nur einen Einzelaspekt zu betreffen scheint.

Insoweit sollte das „Kafka-Jahr“ durchaus dazu dienen, dem Ansatz des 6. Senats vom 14.12.2023 (Az. 6 AZR 157/22 (B)) -über die ME-RL hinaus- Gehör zu schenken, insbesondere den dortigen Randziffern. 8 f:

  • Weder die MERL noch §§ 17 ff. KSchG enthalten jedoch ausdrückliche Sanktionsregelungen für Fehler im Massenentlassungsverfahren.
  • Deshalb müssen Sanktionen für Fehler im Massenentlassungsverfahren von den Mitgliedstaaten im nationalen Recht gefunden werden.
  • Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht müssen nach sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden, die denjenigen entsprechen, die für nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht gelten.
  • Die Sanktion muss dabei wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Es sind also nicht nur der Äquivalenzgrundsatz und der Effektivitätsgrundsatz – effet utile –zu beachten. Die Sanktion muss darüber hinaus auch verhältnismäßig sein.
  • Ob das nationale Recht diesen Anforderungen genügt, haben die nationalen Gerichte in eigener Zuständigkeit festzustellen.
  • Gleiches gilt für die Frage, ob und gegebenenfalls welche Sanktionen sich dem nationalen Recht nach den dafür geltenden Regeln überhaupt entnehmen lassen.

Ist das

– unabhängig von den dort vom 6. Senat dazu zitierten Fundstellen des EuGH –

  • zu national gedacht?
  • Zu wenig europäisch?
  • Zu wenig „effet utile“?

Die passende Antwort darauf könnte auch der Präsident des EuGH, Prof. Dr. Koen Lenaerts, bereits vor knapp zwei Jahren im Rahmen des 10. Europarechtlichen Symposions am Bundesarbeitsgericht in Erfurt gegeben haben. Im Anschluss an seinen dortigen Vortrag zur „Dogmatik des europäischen Grundrechtsschutzes“ stellte er sich auch den zahlreichen Fragen aus dem Publikum. Eine davon bezog sich auf die Rolle des Europäischen Betriebsrats und die aus Sicht des Fragestellers unzureichende Sanktionierung arbeitgeberseitiger Verfahrensverstöße. Auch die EBR-RL 2009/38/EG überlässt in Art. 11 bekanntlich die Sanktionierung dem nationalen Gesetzgeber. Für Prof. Lenaerts war das so in den Raum gestellte Umsetzungsdefizit gerade deshalb aber vornehmlich eine Frage für ein mögliches Verletzungsverfahren gegen den nationalen Gesetzgeber.

Eine, wie ich finde, sehr europäische Antwort. Weltruhm erlangte Kafka nach 1945 aufgrund der Ãœbersetzungen zunächst vor allem im anglo- und frankophonen Sprachraum, erst in den 1950ern stellte sich ein vergleichbar breiter Erfolg auch im deutschsprachigen Raum ein …

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