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ArbRB-Blog

Verfall, Verjährung, Mitwirkungsobliegenheit – Deutsches Urlaubsrecht „made in“ Luxemburg – Teil 2

avatar  Thomas Niklas / Thomas Köllmann

Als wir im November 2020 in unserem Blogbeitrag den Verfall und die Verjährung des Jahresurlaubs sowie die Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers näher beleuchtet haben, waren viele Bereiche noch nicht höchstrichterlich geklärt. Nachdem das Bundesarbeitsgericht aktuell die Entscheidungsgründe einiger für die betriebliche Praxis wichtiger Urteile veröffentlicht hat, ist es Zeit für ein Update.

1. Ausgangslage: Was bisher geklärt war!

Dass den Arbeitgeber eine Mitwirkungsobliegenheit bezüglich der Urlaubsansprüche trifft, hat sich in der Praxis herumgesprochen. Der Urlaubsanspruch erlischt danach nur dann am Ende des Kalenderjahres bzw. des Übertragungszeitraums, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Der Arbeitgeber muss mithin förmlich unter Nennung des konkreten Urlaubsanspruchs dazu auffordern, den Urlaub zu nehmen und klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub ansonsten nach Maßgabe des § 7 Abs. 3 BUrlG verfällt (Mitwirkungsobliegenheit). Für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren kann der Arbeitgeber diese Mitwirkungsobliegenheit im aktuellen Urlaubsjahr nachholen (grundlegend EuGH v. 6.11.2018 – C-684/16, s. hierzu Thüsing/Flink/Jänsch, ZFA 2019, 456 ff.; BAG v. 19.2.2019 – 9 AZR 423/16, ArbRB 2019, 197 [Schewiola]).

War der Arbeitnehmer während des gesamten Kalenderjahres oder eines Teils davon arbeitsunfähig erkrankt, war ebenso geklärt, dass der Urlaubsanspruch nicht verfällt, da ein Verfall voraussetzt, dass der Arbeitnehmer die Möglichkeit hatte, den Urlaub zu nehmen (EuGH v. 30.6.2016 – C-178/15 Rz. 24). Um die negativen Folgen einer unbegrenzten Ansammlung von Urlaubsansprüchen zu vermeiden, hat der EuGH bei einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeit einen Verfall nach 15 Monaten als zulässig angesehen (EuGH v. 29.11.2017 – C-214/16 Rz. 53 ff., ArbRB 2018, 4 [Marquardt]; EuGH v. 22.11.2011 – C-214/10 Rz. 29 f., ArbRB 2011, 228 [Grimm]).

2. BAG schafft Klarheit zur Mitwirkungsobliegenheit und Verjährung

Ungeklärt war, ob a) die Mitwirkungsobliegenheit auch bei langzeiterkrankten Arbeitnehmern existiert und b) ob der Urlaubsanspruch der regelmäßigen dreijährigen Verjährung unterliegt. In diesen Bereichen hat der 9. Senat des BAG nun Klarheit geschaffen.

a) Mitwirkungsobliegenheit existiert auch bei langzeiterkrankten Arbeitnehmern, aber…

Viel diskutiert wurde darüber, ob bei einem langzeiterkrankten Arbeitnehmer der Verfall des Urlaubs auch dann nach 15 Monaten einsetzt, wenn der Arbeitgeber seiner Mitwirkungsobliegenheit nicht nachgekommen ist. Im Ausgangspunkt sind hier zwei Aspekte zu beachten: Zum einen entsteht der gesetzliche Urlaubsanspruch nach der sechsmonatigen Wartezeit (§ 4 KSchG) stets am 1.1. des jeweiligen Jahres in vollem Umfang. Zum anderen ist es für die Entstehung des Urlaubs unerheblich, dass der Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen keine Arbeitsleistung erbringen konnte; dies gilt selbst im Fall des Bezugs von Erwerbsminderungsrente (BAG v. 20.12.2022 – 9 AZR 245/19 Rz. 27).

Ausgehend davon ist bei langzeiterkrankten Arbeitnehmern zu differenzieren:

  • Arbeitnehmer ist seit dem 1.1. des Kalenderjahres dauerhaft arbeitsunfähig erkrankt

Der erst während der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers entstandene und nicht genommene Urlaub erlischt bei einer fortdauernden Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des jeweiligen Urlaubsjahres. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheit nicht erfüllt hat. Für diesen Urlaubsanspruch hatte der EuGH bereits einen Verfall ohne Mitwirkungsobliegenheit gebilligt (EuGH v. 29.11.2017 – C-214/16 Rz. 53 ff., ArbRB 2018, 4 [Marquardt]). Eine freie Entscheidung über die Verwirklichung des Urlaubs ist – ohne dass es auf die Aufforderungen des Arbeitgebers ankäme – von vornherein aufgrund der Krankheit ausgeschlossen (BAG v. 20.12.2022 – 9 AZR 245/19 Rz. 43).

Bsp: Der Arbeitnehmer war ab dem 1.1.2020 bis zum 31.12.2022 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Der Urlaub aus dem Jahr 2020 verfällt auch bei Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit am 31.3.2022, also 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres 2020.

  • Arbeitnehmer wird während des laufenden Urlaubsjahres dauerhaft arbeitsunfähig

Tritt die fortdauernde Arbeitsunfähigkeit im laufenden Kalenderjahr ein, ist der volle Urlaubsanspruch – nach Erfüllung der Wartezeit des § 4 BUrlG –  bereits am 1.1. des Jahres entstanden. Dieser bereits entstandene Urlaub verfällt nur nach 15 Monaten, wenn der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheit erfüllt hat (BAG v. 20.12.2022 – 9 AZR 245/19 Rz. 34). Der Grund ist, dass der Arbeitnehmer den Urlaub bei rechtzeitigem Hinweis auch vor seiner Krankheit hätte nehmen können.

Bsp: Der Arbeitnehmer erkrankt am 1.3.2020 bis zum 31.12.2022 und hatte im Jahr 2020 keinen seiner 20 Urlaubstage genommen. Wenn der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheit im Jahr 2020 nicht erfüllt hat, verfallen diese 20 Urlaubstage auch am 31.3.2022 nicht. Der Arbeitnehmer hat also, wenn er am 1.1.2023 wieder gesund ist, den Urlaub aus den Jahren 2020, 2021, 2022 und 2023, bei 20 Urlaubstagen macht dies 80 Urlaubstage. Hat der Arbeitnehmer noch vertraglichen/tariflichen Mehrurlaub von bspw. zehn zusätzlichen Tagen – was der Regelfall sein dürfte – kommt man auf 120 Tage, sofern der Verfall für diese Tage nicht abweichend geregelt ist (s. zur Regelungsmöglichkeit 4.).

  • Arbeitnehmer wird sehr früh im Kalenderjahr dauerhaft arbeitsunfähig

Was aber passiert, wenn ein Arbeitnehmer sehr früh im Urlaubsjahr arbeitsunfähig erkrankt und es dem Arbeitgeber nicht möglich war, die Mitwirkungsobliegenheit zu erfüllen und auch der Arbeitnehmer – selbst bei Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheit – den Urlaub nicht hätte nehmen können? Hier hat der 9. Senat klargestellt, dass der Arbeitgeber mit der Entstehung des Urlaubs am 1.1. des Jahres seine Mitwirkungsobliegenheit „unverzüglich“ zu erfüllen hat. Ohne Vorliegen besonderer Umstände (wie bspw. Betriebsferien zu Jahresbeginn) handelt der Arbeitgeber nicht unverzüglich, wenn er seine Mitwirkungsobliegenheiten später als sechs Werktage (Samstage = Werktag, § 3 BUrlG) nach Jahresbeginn erfüllt (BAG v. 31.1.2023 – 9 AZR 107/20 Rz. 19).

Bsp: Der Arbeitnehmer erkrankt am 4.1.2020 bis zum 31.12.2022 und hatte im Jahr 2020 keinen seiner 20 Urlaubstage genommen. Obwohl der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheit im Jahr 2020 nicht erfüllt hat, verfallen diese 20 Urlaubstage am 31.3.2022, da der Arbeitnehmer in der ersten Kalenderwoche des Jahres dauerhaft arbeitsunfähig erkrankte.

Weiterhin ist bei einer sehr frühen Erkrankung im Kalenderjahr zu beachten, dass der Urlaub auch ohne Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheit nur in dem Umfang erhalten bleiben kann, in dem der Arbeitnehmer ihn bis zu seiner Krankheit tatsächlich hätte in Anspruch nehmen können. Eine Kausalität zwischen Nichtinanspruchnahme des Urlaubs und Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit ist ansonsten ausgeschlossen (BAG v. 31.1.2023 – 9 AZR 107/20 Rz. 20).

Bsp: Der Arbeitnehmer erkrankt am 15.1.2020 bis zum 31.12.2022 (=11 Arbeitstage, Mo.-Fr.) und hatte im Jahr 2020 keinen seiner 20 Urlaubstage genommen. Da der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheit im Jahr 2020 nicht unverzüglich innerhalb von sechs Werktagen erfüllt hat, verfallen diese 20 Urlaubstage nicht nach 15 Monaten. Allerdings hätte der Arbeitnehmer auch bei unverzüglicher Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheit innerhalb von sechs Werktagen (hier: bis 7. Januar 2020) nicht alle seiner Urlaubstage nehmen können, sondern bis zum Beginn seiner Erkrankung lediglich sechs Urlaubstage. Alleine diese sechs Urlaubstage des Jahres 2020 bleiben erhalten, der Rest verfällt.

b) Verjährung und Verfall

Versäumen Arbeitgeber ihre Mitwirkungsobliegenheit, könnte die Verjährung von Urlaubsansprüchen nach Ablauf der dreijährigen Regelverjährungsfrist einen Rettungsanker bilden. Nach Vorlage an den EuGH und dessen Urteil vom 22.9.2022 (C-120/21, ArbRB 2022, 322 [Steffan]) hat der 9. Senat des BAG mit dem Urteil vom 20.12.2022 diese Hoffnung allerdings – wenig überraschend – zunichte gemacht (BAG v. 20.12.2022 – 9 AZR 266/20): Zwar unterlieg der nicht genommene Jahresurlaub der Verjährung gemäß §§ 194 ff. BGB, allerdings beginne die dreijährige Verjährungsfrist erst, wenn der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheit erfüllt habe. Das BAG stützt dies rechtlich auf den in § 199 Abs. 1 BGB enthaltenen Restriktivsatz „soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist“. Auf Grundlage des BUrlG und der unionsrechtlichen Vorgaben ergebe sich ein „anderer Verjährungsbeginn“, der an die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheit anknüpfe (BAG v. 20.12.2022 – 9 AZR 266/20 Rz. 44).

Anders ist dies im Übrigen bezüglich des Urlaubsabgeltungsanspruchs zu bewerten. Dieser entsteht nach § 7 Abs. 4 BUrlG mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses und unterliegt – unabhängig von etwaigen Mitwirkungsobliegenheiten – sowohl der Verjährung als auch tariflichen und vertraglichen Ausschlussfristen (BAG v. 31.1.2023 – 9 AZR 244/20, 9 AZR 456/20, nur als PM).

3. Was noch ungeklärt bleibt

Ungeklärt ist noch der Verfall und die Verjährung des Anspruchs auf Urlaubsentgelt, also der Vergütungsfortzahlung während des Urlaubs. Dies kann etwa dann relevant sein, wenn das Urlaubsentgelt unzutreffend durch den Arbeitgeber berechnet wurde (vgl. § 11 BUrlG, durchschnittlicher Arbeitsverdienst der letzten 13 Wochen). Im Jahr 2018 ging der 9. Senat noch davon aus, dass der fällige Urlaubsentgeltanspruch – es ging um dessen genaue Berechnung – innerhalb der Ausschlussfrist geltend gemacht wurde, was denknotwendig deren generelle Anwendbarkeit auf den Anspruch voraussetzt (BAG v. 27.02.2018 – 9 AZR 238/17). Der 5. Senat hat an dieser Rechtsprechung in seinem Urteil vom 30.1.2019 „angesichts des unionsrechtlichen Verständnisses“ Zweifel geäußert, dies aber nicht abschließend entschieden (BAG v. 30.1.2019 – 5 AZR 43/18 Rz. 44, ArbRB 2019, 197 [Kühnel]). In der Tat erscheint es aufgrund der Linie des EuGH (bspw. Urt. v. 13.1.2022 – C-514/20 Rz. 33 m.w.N., ArbRB 2022, 35 [Braun]) mehr als fraglich, ob man daran wird festhalten können.

4. Praktische Hinweise

Viele praktische Fragen sind damit geklärt und lassen sich in den Betrieben implementieren. Folgende Punkte sollten beachtet werden:

  • Die Mitwirkungsobliegenheit sollte im jeweiligen Kalenderjahr so früh wie möglich und unter Nennung der konkreten Urlaubstage erfüllt werden. Es bietet sich aus Gründen der Rechtssicherheit auch an, in der zweiten Jahreshälfte nochmals auf den Verfall des Urlaubs hinzuweisen, die Mitwirkungsobliegenheit also zu wiederholen. Problematisch dürfte ein Hinweis für das Folgejahr sein, da der Urlaubsanspruch erst zum 1.1. des Jahres entsteht. Auch im Fall einer in vielen Unternehmen bestehenden Urlaubsplanung zu Beginn des Jahres sollte zusätzlich auf den Verfall des Urlaubs hingewiesen werden.
  • Jedenfalls in neuen Arbeitsverträgen ist der Verfall des vertraglichen Mehrurlaubs abweichend zu regeln. Hier kann der Verfall zum Jahresende ohne besondere Mitwirkungsobliegenheiten aufgenommen werden. Sofern es keine entgegenstehenden tariflichen Regelungen gibt und der Betriebsrat „mitspielt“, kann sich auch eine Betriebsvereinbarung in diesem Bereich zur einheitlichen Regelung des Verfalls des vertraglichen Mehrurlaubs anbieten.
  • Eine Anpassung von Ausschlussfristen bezüglich der Herausnahme des Urlaubsanspruchs ist aktuell noch nicht zwingend geboten. Das BAG geht schließlich davon aus, dass der Urlaubsanspruch wegen des besonderen Fristenregimes der Ausschlussfrist bereits tatbestandlich nicht unterfällt. Führt man sich die ansonsten zunehmend strenger werdenden Anforderungen an die Formulierung von Ausschlussfristen vor Augen, empfiehlt sich, schon jetzt klarzustellen, dass der gesetzliche Urlaubsanspruch hiervon nicht erfasst ist. Der Urlaubsabgeltungsanspruch wird indes von einer Ausschlussfrist erfasst sein.
  • Für die Vertragsgestaltung sollte künftig darauf geachtet werden, dass der Verfall des Urlaubs und insbesondere des vertraglichen Mehrurlaubes in einem eigenen Paragrafen klar und verständlich geregelt wird, damit das Zusammenspiel mit der Ausschlussfrist hinreichend transparent ist.

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