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ArbRB-Blog

Vorzeitiger Aufruf der Sache: Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit kann nicht erfolgreich gerügt werden

avatar  Daniel Mantel
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht

Wer kennt eine solche Situation nicht? Der Gerichtstermin ist beispielsweise auf 09:30 Uhr terminiert. Alle Verfahrensbeteiligten sind bereits schon deutlich zuvor anwesend und warten vor dem Gerichtssaal auf den Aufruf der Sache. Die Parteien lugten in den Gerichtssaal und auch der vorsitzende Richter bzw. die vorsitzende Richterin ist ebenfalls schon da. Das Gericht fragt sodann: „Wollen wir schon einmal anfangen, wenn ja alle da sind“, und ruft die Sache auf; es wird verhandelt.

Der Fall

Ein solcher Fall lag auch der Entscheidung des BAG vom 24.11.2022 (2 AZN 335/22) zugrunde. Bei dem vom BAG zu entscheidenden Fall wurde die Sache so früh aufgerufen und verhandelt, dass sogar die Anträge vor der eigentlich terminierten Uhrzeit aufgenommen wurden. Der Kläger rügte im Rahmen seiner Nichtzulassungsbeschwerde unter anderem, dass er den Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sehe.

Die Entscheidung

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hatte keinen Erfolg.

Das BAG sah die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens (§§ 169 ff. GVG) nicht als verletzt an. Der Grundsatz der Öffentlichkeit solle gewährleisten, dass sich die Rechtsprechung der Gerichte grundsätzlich „in aller Öffentlichkeit“ und nicht hinter verschlossenen Türen abspiele. Er diene letztlich der Kontrolle der Gerichte. Entsprechend diesem Sinn sei der Grundsatz der Öffentlichkeit gewahrt, wenn die Verhandlung in Räumen stattfinde, zu denen während der Dauer der Verhandlung grundsätzlich jedermann der Zutritt offenstehe. Dies sei vorliegend der Fall gewesen, zumal auch während der gesamten Verhandlung die Saaltür unstreitig offenstand.

Der Grundsatz der Öffentlichkeit erfordere nicht, dass jedermann wisse, wann und wo eine mündliche Verhandlung stattfinde. Der Schutz des Vertrauens in lediglich Terminankündigungen werde nicht erfasst, denn die Kontrolle des Verfahrensgangs durch die Allgemeinheit werde durch die bloße Abweichung von einer gerichtlichen Terminankündigung nicht beeinträchtigt.

Auch der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sei nicht verletzt. Der Prozessbevollmächtigter sei bereits bei Aufruf der Sache anwesend gewesen und habe sich durch seine nachfolgende Antragstellung rügelos i. S. v. § 295 Abs. 1 ZPO eingelassen. Ein Verfahrensfehler durch einen Verstoß gegen § 220 Abs. 1 bzw. § 137 Abs. 1 ZPO liege daher ebenfalls nicht vor.

Die Nichtzulassungsbeschwerde wurde daher zurückgewiesen.

Fazit

Die Entscheidung überzeugt. Der Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens soll vor einer Geheimjustiz „hinter verschlossenen Türen“ bewahren. Dem ist Genüge getan, wenn die Verhandlung zu den üblichen Geschäftszeiten stattfindet und die Räumlichkeiten grundsätzlich für die Allgemeinheit zugänglich sind. Überzeugend ist auch der Verweis auf die rügelose Einlassung des klägerischen Prozessbevollmächtigten. Wer sich widerspruchslos auf einen früheren Verhandlungsbeginn einlässt und sogar aktiv seine Anträge stellt, kann sich nicht darauf berufen, dass hierdurch ein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt sei. Wollen Prozessbevollmächtigte geltend machen, dass Verfahrensvorschriften verletzt wurden, empfiehlt es sich stets, unmittelbar deren Einhaltung zu rügen.

 

RA FAArbR Daniel Mantel

RPO Rechtsanwälte, Köln

2 Kommentare

  1. avatar Mario Albrecht
    Veröffentlicht 4.5.2023 um 23:57 | Permalink

    Der vorliegende Beschluss des BAG vom 24.11.2022 (Az. 2 AZN 335/22) scheint der eigenen Rechtsprechung des BAG sowie der des BGH und BVerfG zu widersprechen.

    Eine mündliche Verhandlung vor dem LAG ist öffentlich gemäß § 52 S. 1 ArbGG i.V.m. § 64 Abs. 7 ArbGG.
    Die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes (§ 169 Abs. 1 S. 1 GVG), der ein grundlegendes Prinzip des Rechtsstaats ist und auch aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 S. 2 UN-Zivilpakt folgt, ist ein absoluter Revisionsgrund nach § 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG i.V.m. § 547 Nr. 5 ZPO.

    Kissel/Mayer, GVG, 10. Auflage 2021, § 169 GVG, Rn. 48 führt zum Öffentlichkeitsgrundsatz ausdrücklich Folgendes aus:
    “Die ordnungsgemäß angekündigte Sitzung muss zur Wahrung der Öffentlichkeit in dem angekündigten Raum zur angegebenen Uhrzeit stattfinden. Das Gericht darf deshalb nicht früher mit der Sitzung beginnen als angekündigt (BGHSt 28, 341 = NJW 1979, 2622; BGH NStZ 1984, 134).”

    Der 2. Senat des BAG hatte weniger als acht Monate vor dem vorliegenden Beschluss vom 24.11.2022 (Az. 2 AZN 335/22) den Öffentlichkeitsgrundsatz durch den von ihm zitierten Beschluss vom 02.03.2022 (Az. 2 AZN 629/21) noch bekräftigt und das Urteil eines anderen LAG mit folgendem Leitsatz aufgehoben:
    “Auf die Einhaltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes kann im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht verzichtet werden.”

    Auch der 6. Senat des BAG bestätigte den Öffentlichkeitsgrundsatz bereits sechs Jahre zuvor mit Beschluss vom 22.09.2016 (Az. 6 AZN 376/16), Rn. 6:
    “Der Grundsatz der Öffentlichkeit, der zu den Prinzipien demokratischer Rechtspflege gehört und in § 169 Satz 1 GVG niedergelegt ist, verlangt, dass jedermann bei der Sitzung anwesend sein kann (BAG 19. Februar 2008 – 9 AZN 777/07 – Rn. 8; BGH 6. Oktober 1976 – 3 StR 291/76 – zu I 1 der Gründe, BGHSt 27, 13). Erforderlich ist weiter, dass sich jeder Interessierte ohne besondere Schwierigkeit Kenntnis von Ort und Zeit der Sitzung verschaffen kann (vgl. BVerfG 5. Juli 2006 – 2 BvR 998/06 – Rn. 6; BGH 22. Januar 1981 – 4 StR 97/80 – zu A II 3 a der Gründe). Wird eine Verhandlung oder Beweisaufnahme an einem anderen Ort als dem Sitzungssaal fortgesetzt, ist deshalb sicherzustellen, dass auch unbeteiligte Personen Ort und Zeit der Weiterverhandlung ohne besondere Schwierigkeiten erfahren können (BGH 22. Januar 1981 – 4 StR 97/80 – zu A II 3 a der Gründe). Welche Anforderungen dabei zu stellen sind, hängt vom Einzelfall ab. Im Regelfall ist es zur Wahrung des Grundsatzes der Öffentlichkeit jedoch erforderlich, dass Ort und Zeit des neuen Verhandlungsorts in öffentlicher Sitzung verkündet und durch einen Hinweis am Gerichtssaal bekannt gemacht werden. Nur so ist im Allgemeinen sichergestellt, dass sich auch beliebige Zuhörer, die erst nach der Verkündung der Verlegung des Verhandlungsorts im Gerichtsgebäude erscheinen, über Ort und Zeit der Weiterverhandlung informieren können (vgl. BVerfG 10. Oktober 2001 – 2 BvR 1620/01 – Rn. 6; BGH 22. Januar 1981 – 4 StR 97/80 – zu A II 3 b der Gründe; weiter gehend Kissel/Mayer GVG 8. Aufl. § 169 Rn. 49: Aushang auch am neuen Verhandlungsort).”

    Der BGH entschied in einer mit dem vorliegenden Fall vergleichbaren Situation mit Beschluss vom 18.07.2006, 4 StR 89/06 (= NStZ 2013, 64), dass der verfrühte Verhandlungsbeginn eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ist, der durch eine Wiederholung des verfrühten Verfahrensabschnitts geheilt wird.

    Die vom 2. Senat des BAG angeführte Entscheidung des BVerfG vom 10.10.2001 (Az. 2 BvR 1620/01) zu 2 der Gründe ist keineswegs einschlägig für den vorliegenden Fall und im vorliegenden Beschluss vom 24.11.2022 unvollständig wiedergegeben; die Entscheidung des BVerfG führt nämlich Folgendes aus:
    “Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung gebietet es nicht, dass jedermann weiß, wann und wo ein erkennendes Gericht eine Hauptverhandlung abhält. Es genügt vielmehr, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich ohne besondere Schwierigkeiten davon Kenntnis zu verschaffen, und dass der Zutritt im Rahmen der tatsächlichen Gegebenheiten eröffnet ist (vgl. Kuckein in: Karlsruher Kommentar, 4. Auflage, § 338 Rn. 86 m.w.N.). Beides war hier der Fall. Denn am Gerichtsgebäude selbst waren Hinweise auf Zeit und Ort des Termins angebracht, und die Mitarbeiter des Autohauses hätten interessierten Zuschauern auf Nachfrage mitteilen können, dass entgegen der ursprünglichen Absicht das betreffende Fahrzeug nunmehr zum Gericht verbracht worden ist, um es dort in Augenschein zu nehmen.”

    Dementsprechend erläutert die Justiz NRW (wie das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 10.10.2001, Az. 2 BvR 1620/01) im Online-Recht von A bis Z für Bürgerinnen und Bürger unter
    https://www.justiz.nrw.de/BS/recht_a_z/O/__ffentlichkeitsgrundsatz/index.php Folgendes:
    “Öffentlichkeitsgrundsatz bedeutet, dass eine Gerichtsverhandlung an einem Ort oder in einem Raum stattfinden muss, zu dem während der Verhandlung jedermann der Zutritt offen steht. Hierzu gehört auch, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich vorab ohne besondere Schwierigkeiten über Zeit und Ort einer Gerichtsverhandlung zu informieren.”
    Gerade den zweiten Satz zur vorab notwendigen Ankündigung einer Gerichtsverhandlung mit Zeit und Ort ignorierte das BAG. Im vorliegenden Fall gab es keine Ankündigung der geänderten Zeit.

    Die vom 2. Senat des BAG zitierte Entscheidung des OLG Hamm vom 25.06.2012, III-3 RBs 149/12 (= NStZ 2013, 64), Rn. 14 f., ist ebenfalls überhaupt nicht einschlägig für den vorliegenden Fall. Dies bestätigt auch ein Blick in den Karlsruher Kommentar zur StPO mit GVG, 8. Auflage 2019, § 169 GVG, Rn. 7:
    “Sind Ort und Zeit der Verhandlung ordnungsgemäß bekannt gegeben, reicht dies für die Wahrung der Öffentlichkeit aus; dass der Aushang keine Uhrzeit ausweist oder die Sitzung zu einer späteren Uhrzeit beginnt als angekündigt, ist unschädlich (OLG Hamm NStZ 2013, 64 mwN). Üblich und idR notwendig ist ein außerhalb am Verhandlungssaal während der Verhandlung angebrachter Hinweis.”

  2. Veröffentlicht 9.10.2023 um 08:39 | Permalink

    Besten Dank für Ihren Kommentar, Herr Albrecht.

    Ich möchte ergänzend noch Folgendes ausführen:

    § 169 Abs. 1 S. 1 GVG besagt. „die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht (…) ist öffentlich.“

    Was genau unter einer öffentlichen Verhandlung zu verstehen ist, ist im Gesetz nicht definiert. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff wird erst von der Rechtsprechung mit Leben gefüllt.

    Zum Öffentlichkeitsgrundsatz führt das BVerfG aus:

    „Danach muss einerseits gewährleistet sein, dass sich jedermann ohne besondere Schwierigkeit Kenntnis von Ort und Zeit der Sitzung verschaffen kann, und andererseits, dass ihm im Rahmen der tatsächlichen Gegebenheiten der Zutritt eröffnet wird. Auf welche Weise dies sichergestellt wird, schreibt das Gesetz nicht vor. Einen Anspruch auf Anwesenheit in einer bestimmten, ihn interessierenden Sitzung gewährt das Öffentlichkeitsprinzip dem Bürger nicht.“
    (BVerfG v. 5.7.2006 – 2 BvR 998/06)

    „Es ist von Verfassungs wegen zudem nicht zu beanstanden, dass der BGH das Vertrauen in konkrete Terminsankündigungen (Zeit und Ort betreffend) nicht von § 169 GVG erfasst sieht. Denn Sinn und Zweck der Prozessmaxime (vgl. BVerfGE 15, 303) ist in erster Linie die Kontrolle des Verfahrensgangs durch die Allgemeinheit.“ (BverfG NJW 2002, 814, beck-online).

    Die Beurteilung, ob der Öffentlichkeitsgrundsatz gewahrt wurde, ist immer eine Frage des Einzelfalls. So führte der BGH bspw. aus:

    „Der Schutz des Vertrauens in Terminsankündigungen wird vom Öffentlichkeitsgrundsatz nicht umfaßt. Ein so weitgehender Schutz des Öffentlichkeitsinteresses würde das Gericht praktisch an jede einmal bekanntgegebene Terminsplanung binden und damit eine flexible und zügige Durchführung der Hauptverhandlung behindern. Der Bundesgerichtshof hat indes wiederholt ausgesprochen, daß der ungestörte und zügige Ablauf der Verhandlung ebenso wichtig ist wie die Kontrolle des Verfahrensgangs durch die Allgemeinheit.“
    (BGH v. 15.11.1983 – 1 StR 553/83)

    Sofern in dem vom BAG zu entscheidenden Fall die Sitzung lediglich 10 Minuten früher begann, finde ich es sehr gut vertretbar, dass dadurch der Grundsatz der Öffentlichkeit nicht verletzt wurde.

    Aber: Ob der unbestimmte Rechtsbegriff „öffentlich“ in § 169 GVG erfüllt ist oder nicht, kann nicht pauschal beurteilt werden. Es erfolgt immer eine wertende Betrachtung. Sofern Sie vertreten, diese wertende Betrachtung sollte anders ausfallen, lassen sich hierfür auch Gründe finden.

    Insgesamt auf jeden Fall ein spanendes Thema!

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