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ArbRB-Blog

Update Arbeitszeiterfassung und Vertrauensarbeitszeit

avatar  Alexander Lentz

Vor einigen Wochen hatten wir an dieser Stelle kurz skizziert, welche Veränderungen für den – unterschiedlich verwendeten – Begriff der „Vertrauensarbeitszeit“ mit der Entscheidung des 1. Senats zur Zeiterfassung (BAG, Beschl. v. 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, ArbRB 2022, 299 [Braun]) verbunden sein könnten.Da die Entscheidungsgründe seit Samstag vorliegen, bietet sich ein kurzes Update an.

Ausgangspunkt: Kernaussagen ArbRB-Blog aus dem September

Die beiden Posts vom 19. und 20. September enthielten dabei letztlich drei Kernaussagen:

1.

Der allgemeine Anknüpfungspunkt für eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung über § 3 ArbSchG und den „Arbeits- und Gesundheitsschutz“ macht es bereits ohne Kenntnis der Entscheidungsgründe erforderlich, zeitnah alle Mitarbeitergruppen des Unternehmens in den Blick zu nehmen, in denen „Vertrauensarbeitszeit“ praktiziert wird. In den Blick gerieten damit erstmals auch leitende Angestellte.

2.

Gestaltungsspielräume dürften dort verbleiben, wo die abstrakte Zielsetzung des Gesundheitsschutzes in der konkreten Vorgabe der Richtlinie von Mindestpausen und Höchstarbeitszeiten durch Alternativen zur elektronischen Vollzeiterfassung im konkreten Anwendungsfall für die jeweilige Mitarbeitergruppe nachweislich sichergestellt ist.

3.

Die Ausfüllung dieser Gestaltungspielräume – wie auch des Systems der Zeiterfassung selbst – unterliegt dort, wo ein Betriebsrat gebildet und zuständig ist, der vollumfänglichen Mitbestimmung. Die Entscheidung könnte daher – entgegen dem Tenors des Beschlusses und der damit verbundenen Klagabweisung im konkreten Verfahren- aufgrund ihrer Begründung faktisch eher zu einer Ausweitung als zu einer Beschränkung der Mitbestimmung führen.

Abgleich der Entscheidungsgründe

 Gesamtbewertung

Der Schwerpunkt der Begründung liegt – erwartungsgemäß für eine Grundsatzentscheidung des 1. Senats – in einer umfassenden dogmatischen Herleitung einer aus § 3 Abs. 1 ArbSchG abgeleiteten

„- grundsätzlichen – Verpflichtung der Arbeitgeberinnen, ein System zur Erfassung der von ihren Arbeitnehmern geleisteten Arbeitszeit einzuführen, das Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeit einschließlich der Ãœberstunden erfasst.“

Die Ausführungen setzten sich dabei zum einen sehr konkret mit der Entstehungsgeschichte und dem Verhältnis von ArbSchG und ArbZG, den dort in Bezug genommenen Richtlinien wie auch den einschlägigen Artikeln der Grundrechte-Charta der Europäischen Union (GRCh) auseinander. Sie enthalten darüber hinaus aber auch sehr allgemeine Ausführungen zur unionsrechtskonformen Auslegung, die auch über diese Entscheidung hinaus künftig Wirkung entfalten dürften.

All dies dürfte in den kommenden Wochen in diversen Fachzeitschriften auf vielen Seiten umfangreich analysiert, bewertet und – wie im Spannungsfeld von nationalem und Europäischem Recht üblich – dort an der einen oder anderen Stelle auch infrage gestellt werden.

Daher beschränkt sich der vorliegende Beitrag auf einzelne Aspekte der Begründung, die einen konkreten Bezug zu den drei eingangs erwähnten Kernaussagen aufweisen.

Einzelaspekte

Geltung der Aufzeichnungspflicht für leitende Angestellte?

Der Senat musste sich mit dieser Frage nicht auseinandersetzen, da er allein über den Umfang eines Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats zu entscheiden hatte, dem bekanntlich die Zuständigkeit für leitende Angestellte fehlt.

Pro

Er lässt aber trotzdem ausdrücklich offen, ob – trotz der grundsätzlichen Herausnahme der leitenden Angestellten aus dem ArbZG gemäß § 18 Abs. 1 ArbZG – diese nicht im Wege einer unionskonformen Auslegung des § 3 ArbSchG ebenfalls zur Aufzeichnung verpflichtet sind

(Vgl. Rz. 57 explizit zu § 18 ArbZG:  …nicht entscheidungserheblich, inwieweit dies Vorschriften den unionsrechtlichen Anforderungen entsprechen)

Dafür könnte sprechen, dass der Senat im Text kurz zuvor ausdrücklich auf zwei sich überlagernde und sich damit nicht ausschließende Regelungsvorgaben hinweist.

(Vgl. Rz. 50: Auch unionsrechtlich ist vorgegeben, dass das Arbeitszeit- und das Arbeitsschutzgesetz bei arbeitszeitrechtlichen Fragestellungen nebeneinander gelten)

Und es zudem nicht ganz unbedeutende arbeitsrechtliche Stimmen gibt, die § 18 ArbZG aktuell nicht im Einklang mit Art. 17 RL 2003/88/EG sehen.

Contra

Aus meiner Sicht spricht aber trotzdem deutlich mehr dafür, dass ohne konkreten Anlass im Einzelfall von einer allgemeinen Aufzeichnungspflicht für leitende Angestellte einstweilen auch weiterhin nicht auszugehen ist:

Der Senat stellt selbst noch einmal ausdrücklich klar, dass sich die Aufzeichnungspflicht nicht bereits direkt aus Art 31 Abs. 2 GRCh ergibt (Vgl. Rz. 24).

Die Aufzeichnungspflicht wird insbesondere auch vom EuGH in der CCOO-Entscheidung aus der Arbeitszeit-Richtlinie selbst abgeleitet und erfolgt „unbeschadet von Art 17 Abs. 1“ RL 2003/88/EG, worauf auch der Senat hinweist (Vgl. Rz. 56).

Selbst wenn man von einem Nebeneinander der Richtlinien bzw. Gesetze ausgeht, können die jeweils allgemeinen fachlichen Wertungen in den Richtlinien wechselseitig nicht völlig außer Acht bleiben. Wenn es die in Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG unbestritten ausdrücklich erwähnte „selbstständige Entscheidungsbefugnis“ in der Arbeitszeit-Richtline offensichtlich auch fachlich unter Gesundheitsaspekten rechtfertigt, diese Mitarbeiter als weniger gefährdet und schützenswert einzuordnen, kann diese allgemeine (fachliche) Wertung auch im Rahmen der (allgemeineren) Arbeitsschutz-Richtlinie nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben. Denn gerade dort werden Handlungspflichten seit jeher daran gemessen, ob eine abstrakte oder konkrete Gefahr die jeweils (konkrete) Handlungs- bzw. Organisationspflicht gebietet.

Gestaltungsmöglichkeiten

Gesetzgeber

Der Senat weist zunächst ausdrücklich darauf hin, dass dem Gesetzgeber – unabhängig von dem bereits erwähnten Art. 17 RL 2003/88/EG und Ergänzungen/Änderungen auf dieser Grundlage – Spielräume bei der Ausgestaltung der Arbeitszeitdokumentation zustehen.

Dabei seien vor allem die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer und die Eigenheiten des Unternehmens – insbesondere seine Größe – zu berücksichtigen.

[…]

Zudem sei es auch nicht ausgeschlossen, die Aufzeichnung der betreffenden Zeiten als solche an die Arbeitnehmer zu delegieren.

(Vgl. jeweils Rz. 65).

Spannend bleibt die Frage, ob damit nicht bspw. bei einer weitestgehend kontrollfreien Tätigkeit im Homeoffice mit ggf. zeitlich überlappenden Aktivitäten – bei lebensnaher Betrachtung – gleichzeitig auch faktisch die Delegation an den Arbeitnehmer über die Entscheidung verbunden ist, was am Ende jeweils als Arbeitszeit zu bewerten ist.

Und wie weit dies dann noch von dem entfernt wäre, was klassisch als „Vertrauensarbeitszeit“ verstanden wird.

Betriebsparteien des BetrVG

Der Senat stellt zudem klar, dass dies -solange der Gesetzgeber diese Gestaltungsspielräume nicht ausgeübt hat- ansonsten den Betriebsparteien obliegt (Vgl. Rz. 66). Insoweit greift in vollem Umfang § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. Insoweit besteht für den Betriebsrat insbesondere die Möglichkeit, mit einem weit gefassten Regelungsauftrag an die Einigungsstelle, die zuvor skizzierten Gestaltungsmöglichkeiten auch im Wege der erzwingbaren Mitbestimmung umzusetzen.

Da das Gericht das „ob“ in der Entscheidung grundsätzlich bereits als gesetzliche Pflicht definiert, ist mit dem „Wie“ damit letztlich ein weitaus größerer Gestaltungsspielraum als bisher eröffnet worden.

Betriebe ohne Betriebsrat?

In Anbetracht einer objektiven arbeitsschutzrechtlichen Handlungspflicht dürften auch in Betrieben ohne Betriebsrat zunächst grundsätzlich dieselben Gestaltungsspielräume bestehen. Um für eine vom Regelfall der elektronischen Zeiterfassung abweichende betriebliche Ausgestaltung im Streitfall jedoch eine vergleichbare objektive Legitimationswirkung wie für eine Betriebsvereinbarung oder einen Einigungsstellenspruch geltend machen zu können, dürfte insoweit zumindest ein arbeitsschutzrechtlicher Beratungsnachweis regelmäßig geboten sein.

Ausblick 

Insoweit erscheint es auch nach Veröffentlichung der Entscheidungsgründe geboten, zunächst eine umfassende Analyse vorzunehmen, wie und in welchem Umfang Arbeitszeit bislang bei einzelnen Mitarbeitergruppen bzw.  Abteilungen erfasst wird und welche Anpassungen im Rahmen der Gestaltungsmöglichkeiten zwingend vorzunehmen sind.

Dabei ist insbesondere auch zu evaluieren, welche Historie das Ganze dort insgesamt unter dem Aspekt „Gesundheit“ aufweist (u.a. Fehlzeiten, Langzeiterkrankungen etc.), auch im Vergleich zu anderen Abteilungen bzw. im branchenbezogenen Vergleich mit anderen Unternehmen.

Darüber hinaus sind die aktuell avisierten Aktivitäten des Gesetzgebers im Blick zu behalten.

Da das deutsche Arbeitsrecht bislang eine unmittelbar geltende Aufzeichnungspflicht der Arbeitszeit nicht kannte, dürften zudem mittelbare Auswirkungen auf weitere arbeitsrechtliche Fragestellungen vom Kündigungsschutz bis zu Vergütungsstreitigkeiten künftig kaum ausbleiben.

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