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Das Gebot fairen Verhandelns – Allheilmittel im Kampf gegen „unliebsame“ Aufhebungsverträge?

avatar  Philipp S. Fischinger

Schon ab Mitte der 2000er Jahre erwähnte das Bundesarbeitsgericht vereinzelt die Möglichkeit, arbeitsrechtliche (Aufhebungs-)Verträge einer Kontrolle anhand des Gebots fairen Verhandelns zu unterziehen. Weil das aber stets nur en passant geschah und ein Verstoß jeweils in dürren Worten abgelehnt wurde, nahm wohl niemand dieses Gebot ernsthaft als potentielle Chance oder Risiko (je nach Perspektive) wahr. Das Judikat vom 7. Februar 2019 (6 AZR 75/18, NZA 2019, 688 = ArbRB 2019, 164 [Esser]), mit dem das Gericht dem bis dato friedlich im Dornröschenschlaf vor sich hin schlummernden Gebot erstmals praktisches Leben einhauchte, bedeutete daher einen Paukenschlag mit erheblicher, in seinen Konsequenzen noch nicht absehbarer Sprengkraft.

Im zugrunde liegenden Fall hatte der Arbeitgeber – so zumindest die Behauptungen der Arbeitnehmerin, die hier als wahr unterstellt werden sollen – die erkrankte und unter Einfluss von Schmerzmitteln stehende Arbeitnehmerin überraschend zu Hause aufgesucht und beschimpft, woraufhin diese den Aufhebungsvertrag unterschrieb.

Das BAG entschied, dass Aufhebungsverträge, die unter Verstoß des Arbeitgebers gegen das aus §§ 311 II Nr. 1, 241 II BGB herzuleitende Gebot fairen Verhandelns zustande kamen, automatisch unwirksam sind. Dabei geht es dem Gericht explizit nicht um eine Vertragsinhaltskontrolle, sondern allein um den Weg zum Vertrag. Sprich: Vollkommen losgelöst vom Inhalt des Aufhebungsvertrags soll dieser unwirksam sein, wenn der Arbeitgeber bei den Verhandlungen hierüber unfair verhandelt hat. Das kommt nach dem BAG vor allem in vier Fallkonstellationen in Betracht:

  1. Bei Schaffung oder Ausnutzung einer psychischen Drucksituation von einigem Gewicht, die eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners erheblich erschwert oder sogar unmöglich macht; dabei spricht das Gericht von „besonders unangenehme[n] Rahmenbedingungen, die erheblich ablenken oder sogar den Fluchtinstinkt wecken.“
  2.  Bei Ausnutzung einer erkennbaren körperlichen oder physischen Schwäche.
  3. Bei Ausnutzung unzureichender Sprachkenntnisse oder
  4.  Ausnutzung eines Überraschungsmoments, z.B. durch Verhandlungen an einem ungewöhnlichen Ort und/oder einer ungewöhnlichen Zeit.

Dogmatisch überzeugt diese Auffassung nicht und sie stört das vom BGB wohl austarierte Gleichgewicht zwischen Vertragsfreiheit einerseits, Schutz der Willensbildungsfreiheit andererseits (Staudinger/Richardi/Fischinger (2020) § 611a, Rn. 1959 ff.; Fischinger, NZA 2019, 729, 730 ff.; ebenso Bauer/Romero, ZFA 2019, 608, 614, 618; Holler, NJW 2019, 2006). Richtigerweise sind solche Fälle über § 123 I Alt. 2 BGB bzw. – so eine Drohung fehlt – über § 138 I BGB zu lösen. Letzterer erlaubt es nicht nur, den Inhalt, sondern auch die Umstände des Zustandekommens des Vertrags zu würdigen und ermöglicht es daher dogmatisch abgesichert, die vom BAG angeführten, eine Verletzung des Gebots fairen Verhandelns begründenden Umstände zu berücksichtigen – wie das beispielsweise in anderem Kontext seit vielen Jahren wunderbar bei der Kontrolle von Angehörigenbürgschaften oder Scheidungsfolgenvereinbarungen gelingt (vgl. näher und m.w.N. Staudinger/Sack/Fischinger (2017) § 138 BGB, Rn. 11, 400 ff., 665 ff.).
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Nun mag ein praktisch veranlagter und denkender Mensch einwenden: „Was soll’s? Grau ist bekanntlich alle Theorie und entscheidend ist doch ohnehin nur, was hinten rauskommt“. Ins Juristische übersetzt: Ob die Unwirksamkeit aus § 138 I BGB oder der Verletzung des Gebots fairen Verhandelns resultiert, ist doch im Ergebnis irrelevant, oder? Allerdings: Dass diese Sichtweise einigermaßen blauäugig ist, war schon unmittelbar nach dem BAG-Urteil zu befürchten. Denn es ja offensichtlich, dass der Vorwurf eines „unfairen“ Verhandelns schon rein semantisch viel leichter und schneller von der Hand geht als derjenige sittenwidrigen Verhaltens. Die damit einhergehende Gefahr, dass Gerichte ihnen unliebsam erscheinende Aufhebungsverträge einfach unter Verweis auf das „unfaire“ Verhalten des Arbeitgebers vom Tisch wischen, ist groß, umso mehr, weil man sich damit v.a. lästige Fragen, ob eine Drohung ausgesprochen wurde und ob diese widerrechtlich war, ersparen kann. Mit dem Gebot fairen Verhandelns hat das BAG damit ein Allheilmittel kreiert, welches es den (Instanz-)Gerichten ermöglicht, die lästigen Fesseln der §§ 105 ff., 119 ff., 138 BGB abzustreifen und ganz unabhängig von deren Anforderungen – man ist geneigt auszurufen: in Ausübung freier, „kreativer“ Rechtsschöpfung – Aufhebungsverträge zu kassieren. Mit der Systematik des BGB und dem ihm zugrunde liegenden Menschenbild lässt sich das kaum vereinbaren, ist aber vielleicht auch Ausdruck einer Gesellschaft, die sich immer weiter vom Ideal des Kant’schen „sapere aude“ entfernt und in der der Eindruck, man habe schließlich ein Recht darauf, sich von den Folgen des eigenen unüberlegten Handelns später distanzieren zu können, immer mehr an Boden gewinnt.

Die Lektüre des BAG-Judikats legt den Schluss nahe, dass auch das Gericht diese Gefahr zumindest nicht völlig verkannt hat. Denn immerhin unternahm es den Versuch, ihr durch die Statuierung einer Erheblichkeitsschwelle (die psychische Drucksituation müsse „eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners erheblich erschwert oder sogar unmöglich“ gemacht haben) vorzubeugen. Man muss aber kein Arbeitgebervertreter sein, um angesichts der tendenziell arbeitnehmerfreundlichen Praxis vieler Arbeitsgerichte und Landesarbeitsgerichte gewisse Zweifel daran anzumelden, dass das BAG damit die Geister, die es rief, wieder loswird.

Das zeigen exemplarisch die Entscheidungen des ArbG Schwerin (26.6.2019 – 4 Ca 1702/18) und, vor allem, des LAG Mecklenburg-Vorpommern als Berufungsinstanz (19.5.2020 – 5 Sa 173/19, ArbRB 2020, 237 [Hülbach]). So verzichtete das LAG in einer Konstellation, in der durchaus die Prüfung einer widerrechtlichen Drohung nahelag (vom ArbG auch noch vertretbar bejaht), vollständig auf eine solche und beschränkte sich allein darauf, eine Verletzung des Gebots fairen Verhandelns festzustellen. Letzteres hielt das Gericht u.a. deshalb für verletzt, weil eine Schulleiterin einem ihr unterstellten Lehrer – dem Kläger – mitteilte: „So geht es bei uns an der Schule nicht.“ Nach Auffassung des Gerichts baute dies beim Kläger einen „massiven Druck“ auf, so dass dieser „an sich und seinen Fähigkeiten zweifeln“ musste. Ferner warf es dem Arbeitgeber vor, nicht über die Ursachen der Verzweiflung gesprochen und auch keine alternativen Einsatzmöglichkeiten erörtert zu haben. Ob die Entscheidung im Ergebnis richtig war, sei an dieser Stelle dahingestellt. Aufs schärfste zurückzuweisen sind aber die Annahmen des Gerichts, sachlich geäußerte Kritik und der Umstand, dass der Arbeitgeber nicht über die Ursache einer psychischen Krise gesprochen hat, begründeten den Vorwurf unfaires Verhandeln. Nichts anderes gilt für die Aussage des ArbG Berlin (30.1.2015 – 28 Ca 12971/14), das einen Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns u.a. daraus ableitete, dass der Arbeitgeber wenig Empathie an den Tag legte und – in der Sache zutreffend – den Arbeitnehmer darauf hinwies, der Betriebsrat habe der fristlosen Kündigung bereits zugestimmt, was außergewöhnlich sei. Würden solche Aussagen in einer (Examens-)Klausur getätigt werden, wären sie mit „abwegig“ zu würdigen.

Die Hoffnung, dass solche Entscheidungen vereinzelte „Ausreißer“ bleiben, ist gering, zumindest solange, bis das BAG Gelegenheit bekommt, durch weitere Judikate das reichlich unbestimmte Profil des Gebots fairen Verhandelns (eingrenzend) zu schärfen. Umso bedauerlicher ist angesichts dessen, dass das LAG Mecklenburg-Vorpommern die Revision nicht zugelassen hat. Obwohl: Aus Sicht des LAG mag das ja durchaus „sinnvoll“ gewesen sein, lebt und urteilt es sich doch ohne höchstrichterliche Kontrolle so viel unbeschwerter und leichter – und zugleich schraubt man sofort die Erledigungszahl nach oben. Ein Schelm, der Böses dabei denkt…

Summa summarum: Das Gebot fairen Verhandelns ist ein dogmatischer Irrweg mit gravierenden praktischen Konsequenzen, den das BAG schnellstens aufgeben und durch die systematisch zutreffende Sittenwidrigkeitskontrolle ersetzen sollte. Bis dahin ist Arbeitgebern und ihren Beratern dringendst zu raten, höchste Sorgfalt walten zu lassen und wirklich jeglichen Anschein psychischer Druckausübung zu vermeiden – anderenfalls könnte es vor Gericht ein böses Erwachen geben. Arbeitnehmer(vertreter) hingegen können frohlocken. Der „Drohung“, sich auf eine Verletzung des Gebots fairen Verhandelns zu berufen, dürfte den „Preis“ – sprich die Abfindung – regelmäßig nach oben treiben.

Prof. Dr. Philipp S. Fischinger, LL.M. (Harvard)

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+++ Hinweis der Redaktion +++

Weitere Beiträge zum Thema lesen Sie im ArbRB, in der ZFA und im Aktionsmodul Arbeitsrecht:

  • Reufels/Pütz, Das neue Gebot beim Abschluss von Aufhebungsverträgen: Bedenkzeit geben – Ãœber die Konsequenzen des Gebots fairen Verhandelns für die Beratungspraxis, ArbRB 2020, 253
  • Tiedemann, Das sog. Gebot fairen Verhandelns – „Taschenspielertrick“ oder Rechtsprechung mit klaren Konturen?, ArbRB 2020, 61
  • Bauer/Romero, Kein Widerrufsrecht bei Aufhebungsverträgen – Verletzung des Gebots fairen Verhandelns, ZFA 2019, 608

 

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