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Neues BAG-Urteil zur AU-Bescheinigung: Ein Verstoß gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie kann zur Erschütterung des Beweiswerts führen

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Ein Arbeitnehmer hat nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EntgFZG gegen seinen Arbeitgeber einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist. Dieser Anspruch besteht für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen. Arbeitgeber haben ein Interesse daran, diese Zahlung von Arbeitsentgelt ohne Gegenleistung nur dann leisten zu müssen, wenn tatsächlich eine Arbeitsunfähigkeit im Sinne des Gesetzes vorliegt. Hieran bestehen immer häufiger Zweifel, wie verschiedene gerichtliche Entscheidungen zeigen (LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 21.3.2003 – 2 Sa 126/22; LAG Niedersachen vom 8.3.2023 – 8 Sa 859/22).

Der Beweis, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist und deshalb keine Entgeltfortzahlung ohne Arbeitsleistung gezahlt werden muss, ist allerdings für Arbeitgeber schwer zu führen. Die Rechtsprechung entnimmt § 5 Abs. 1 Satz 2 EntgFZG, dass die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ist. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 EntgFG reicht allein die Vorlage einer solchen ärztlichen Bescheinigung aus, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung zu nehmen.

Das BAG leitet hieraus einen hohen Beweiswert der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ab. Ein Arbeitgeber kann folglich durch ein bloßes Bestreiten einen Arbeitnehmer nicht dazu „zwingen“, seine Arbeitsunfähigkeit auf andere Weise darzulegen und zu beweisen. Vielmehr kann der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben. Erst wenn dies dem Arbeitgeber gelungen ist, muss der Arbeitnehmer versuchen, seine Arbeitsunfähigkeit auf andere Weise darzulegen und zu beweisen, um die beanspruchte Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu erhalten.

Vor diesem Hintergrund ist für die Praxis von Bedeutung, aufgrund welcher Tatsachen eine solche Erschütterung des Beweiswerts möglich ist. In einer soeben veröffentlichten Entscheidung vom 28.6.2023 – 5 AZR 335/22 – nimmt das BAG zum ersten Mal dazu Stellung, ob auch ein Verstoß gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-Richtlinie) des gemeinsamen Bundesausschusses, dem obersten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, zu einer solchen Erschütterung des Beweiswerts führen kann. Nach Ansicht des Gerichts sind insoweit zwar nicht alle Bestimmungen der AU-Richtlinie relevant. Formale Vorgaben, die in erster Linie kassenrechtliche Bedeutung haben und das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse betreffen, wie Formulare und Angaben für die Abrechnung sollen hierfür grundsätzlich ohne Bedeutung sein. Anders zu beurteilen sind hingegen nach Ansicht des BAG die Regelungen in §§ 4 und 5 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit beziehen. Hierzu gehören insbesondere:

  • Die Notwendigkeit einer vorherigen ärztlichen Untersuchung (§ 4 Abs. 5 Satz 1 AU-Richtlinie). Diese erfolgt nach § 4 Abs. 5 Satz 2 AU-Richtlinie unmittelbar persönlich oder mittelbar persönlich im Rahmen einer Videosprechstunde, für die in § 4 Abs. 5 AU-Richtlinie dann weitere strenge Anforderungen enthalten sind.
  • Das grundsätzliche Verbot, eine Arbeitsunfähigkeit für eine vor der ärztlichen Inanspruchnahme liegende Zeit zu bescheinigen (§ 5 Abs. 3 Satz 1 AU-Richtlinie). Eine Rückdatierung des Beginns der Arbeitsunfähigkeit auf einen vor dem Behandlungsbeginn liegenden Tag ist ebenso wie eine rückwirkende Bescheinigung über das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit nur ausnahmsweise und nur nach gewissenhafter Prüfung und in der Regel nur bis zu drei Tagen zulässig.
  • Das Nichterscheinen eines Versicherten entgegen ärztlicher Aufforderung ohne triftigen Grund zum vereinbarten Folgetermin, so dass eine rückwirkende Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit versagt werden kann.
  • Die Beschränkung der Bescheinigung einer voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit auf höchstens zwei Wochen im Voraus (§ 5 Abs. 4 AU-Richtlinie). Nur wenn es aufgrund der Erkrankung oder eines besonderen Krankheitsverlaufs sachgerecht ist, kann die Arbeitsunfähigkeit bis zur voraussichtlichen Dauer von einem Monat bescheinigt werden.
  • Die Bescheinigung einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit auch für arbeitsfreie Tage, z.B. an Samstagen, Sonntagen, Feiertagen, Urlaubstagen oder an arbeitsfreien Tagen aufgrund einer flexiblen Arbeitszeitregelung (§ 5 Abs. 5 AU-Richtlinie).

Gelingt es einem Arbeitgeber, anhand der Vorgaben der AU-Richtlinie den Beweiswert zu erschüttern, muss der Arbeitnehmer wieder den vollen Beweis dafür erbringen, dass er tatsächlich während des bescheinigten Zeitraums arbeitsunfähig war, ohne sich auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung berufen zu können. Allerdings besteht für ihn insoweit die Möglichkeit, den Arzt, der die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt hat, als Zeugen zu benennen.

Für die Praxis besonders wichtig ist ein weiterer Aspekt: Sieht ein Arbeitgeber den Beweiswert der ihm vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert an und will er deshalb keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zahlen, sollte er hiervon unverzüglich die Krankenkasse in Kenntnis setzen. Ansonsten wird die Krankenkasse nach § 46 ff. SGB V Krankengeld zahlen, so dass dem Arbeitgeber – auch – mit ihr gerichtliche Auseinandersetzungen drohen. Der Anspruch auf Krankengeld entsteht nach § 46 Abs. 1 Nr. 2 SGB V vom Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit an. Er ruht zwar nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 SGB V soweit und solange Versicherte beitragspflichtiges Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erhalten. Dies geschieht aber gerade nicht, wenn der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verweigert, so dass ein Anspruch des Arbeitnehmers gegen die Krankenkasse entstehen könnte. Bei einer entsprechenden Mitteilung des Arbeitgebers wird diese aber nicht zahlen, da die sozialgerichtliche Rechtsprechung bei der möglichen Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nahezu dieselben Maßstäbe ansetzt wie das BAG für die arbeitsrechtliche Betrachtung.

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Hinweis der Redaktion
Lesen Sie zu diesem Thema auch folgende ArbRB-Beiträge – gerne auch im Gratis-Test unserer Datenbank:

  • Steffan, Krank oder Simulant? Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und seine Erschütterung, ArbRB 2023, 243, und
  • Böhm, Richtig reagieren bei zweifelhafter Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber und Stolperfallen für Arbeitnehmer, ArbRB 2023, 311.

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