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Abrufarbeitsverhältnis: Vorrang von § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG vor ergänzender Vertragsauslegung

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Der Arbeitsvertrag enthält die Regelung, dass die Erbringung der Arbeitsleistung auf Abruf erfolgt und dass die Lage der Arbeitszeit jeweils mindestens vier Kalendertage im Voraus mitgeteilt wird sowie dass die Arbeitsleistung auch ohne Einhaltung der Ansagefrist zu erbringen ist, soweit die Mitarbeiterin im Einzelfall hierauf verzichtet hat. Im Zeitraum Januar 2017 bis Dezember 2019 rief der Arbeitgeber die Arbeitsleistung nach Bedarf in schwankendem Umfang ab. Die Klägerin ist der Ansicht, die Beklagte sei verpflichtet, sie mit monatlich über 120 Stunden, dem von ihr ermittelten Durchschnittswert der Jahre 2017 – 2019, zu beschäftigen.

Das Landesarbeitsgericht Hamm hat die Berufung gegen das die Klage abweisende Urteil des Arbeitsgerichts zurückgewiesen und die Revision zugelassen (LAG Hamm, Urt. v. 2.8.2023 – 4 Sa 669/22).

Die Parteien haben keine konkludente vertragliche Vereinbarung der Arbeitszeit getroffen. Insbesondere haben sie eine über 20 Wochenstunden hinausgehende Arbeitszeit nicht stillschweigend vereinbart. Entsprechende rechtsgeschäftliche Erklärungen der Parteien fehlen. Sie lassen sich auch nicht aus dem Umfang ableiten, in dem die Klägerin tatsächlich von der Beklagten zur Arbeit herangezogen wurde. Zwar können sich Arbeitspflichten, ohne dass ausdrückliche Erklärungen ausgetauscht werden, nach längerer Zeit auf bestimmte Arbeitsbedingungen konkretisieren (BAG, Urt. v. 17.8.2011 – 10 AZR 202/10 – Rn. 19 mwN. = ArbRB 2012, 78 [Kühnel]). Eine Konkretisierung der Leistungspflicht des Arbeitnehmers im Wege stillschweigender Vertragsergänzung setzt jedoch voraus, dass über den bloßen Zeitablauf hinaus weitere Umstände vorliegen, die ein schutzwürdiges Vertrauen des Arbeitnehmers auf Beibehaltung des bisherigen Leistungsinhalts für die Zukunft begründen. Denn der Arbeitseinsatz ist ein tatsächliches Verhalten, dem nicht notwendig ein bestimmter rechtsgeschäftlicher Erklärungswert in Bezug auf den Inhalt des Arbeitsverhältnisses zukommt (BAG, Urt. v. 26.9.2012 – 10 AZR 336/11, DB 2013, 290).

Solche zusätzlichen Umstände, die ein schutzwürdiges Vertrauen des Arbeitnehmers auf Beibehaltung des bisherigen Leistungsinhalts begründen, waren im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Vielmehr hat die Klägerseite auf das Abrufverhalten der Beklagten als solches abgestellt, aus dem sie ein Angebot zur Vereinbarung einer dem Abruf entsprechenden Arbeitszeit ableiten möchte. Aus dem Abrufverhalten konnte die Klägerin allerdings grundsätzlich nur auf einen hohen Bedarf an ihrer Arbeitsleistung, nicht aber auf die Vereinbarung einer bestimmten Mindestarbeitszeit schließen (vgl. BAG, Urt. v. 26.9.2012 – 10 AZR 336/11 Rn. 18, DB 2013, 290; ähnlich zur Erhöhung der vertraglichen Arbeitszeit durch tatsächlichen Arbeitseinsatz BAG, Urt. v. 22.4.2009 – 5 AZR 133/08 Rn. 13 = ArbRB 2009, 262 [Boudon]).

Hingegen kann eine ständig erbrachte Mindestarbeitsleistung als konkludent vereinbart angesehen werden, wenn der Arbeitgeber die Arbeitsleistung nicht nur abgerufen und erwartet, sondern von den Arbeitnehmern als vertraglich geschuldete Leistung gefordert hat (BAG, Urt. v. 26.9.2012 – 10 AZR 336/11 Rn. 21, DB 2013, 290). Dafür fehlten jedoch Anhaltspunkte.

Angesichts des schwankenden Beschäftigungsbedarfs würde es auch an der hinreichenden Bestimmtheit eines konkludenten Angebots zum Umfang der Arbeitszeit fehlen. Schließlich wäre die konkludente Vereinbarung einer Arbeitszeit allein durch tatsächliche Heranziehung zur Arbeit bei der hier vorliegenden Arbeit auf Abruf reine Fiktion. Die tatsächliche Arbeitsdauer lässt keinen Rückschluss auf einen entsprechenden Willen der Parteien zu, sondern basiert allein auf dem Beschäftigungsbedarf der Beklagten. Durch die besondere Verknüpfung der Arbeitsleistung mit dem Arbeitsanfall nach § 12 Abs. 1 S. 1 TzBfG unterscheidet sich die Arbeit auf Abruf von anderen Arbeitsverhältnissen, in denen das gelebte Arbeitsverhältnis als Ausdruck des wirklichen Parteiwillens bei der Ermittlung der regelmäßigen vertraglichen Arbeitszeit zugrunde zu legen sein kann (dazu BAG, Urt. v. 2.11.2016 – 10 AZR 419/15 Rn. 11). Da beim Abrufarbeitsverhältnis der Beschäftigungsbedarf zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses regelmäßig nicht bekannt ist, können die Parteien gar keine Regelung treffen, die mit der späteren tatsächlichen Arbeitszeit übereinstimmt (Hamann/Rudnik, jurisPR-ArbR 48/2014, Anm. 1; ähnlich Uffmann/Kredig, NZA 2020, 137, 140; Bayreuther in BeckOK ArbR, § 12 TzBfG Rn. 8a).

Die Regelungslücke im Arbeitsvertrag ist durch Rückgriff auf § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG, zu füllen, nicht durch ergänzende Vertragsauslegung.

Das Rangverhältnis zwischen der ergänzenden Vertragsauslegung und dem dispositiven Recht ist zweifelhaft. Nach einer Ansicht kommt eine ergänzende Auslegung erst in Betracht, wenn weder die Auslegung des Rechtsgeschäftes noch das Gesetz eine Lösung der offenen Frage ergibt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die festgestellte Regelungslücke durch Heranziehung vorhandenen dispositiven Rechts sachgerecht geschlossen werden kann. Nach dieser Auffassung scheidet eine ergänzende Auslegung schon deswegen aus, weil das Gesetz mit § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG ausdrücklich eine Rechtsfolge für den Fall regelt, dass die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit entgegen § 12 Abs, 1 Satz 2 TzBfG nicht festgelegt ist.

Nach anderer Auffassung ist nach der Typizität des Geschäfts zu unterscheiden: Da bei einem Geschäft, das einem gesetzlich durchnormierten Geschäftstyp entspricht, das von Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte Geforderte positivrechtlichen Niederschlag gefunden hat, ist diesen Wertungen zu folgen. Für den Regelfall kann daher davon ausgegangen werden, dass die an einem Rechtsgeschäft Beteiligten die von ihnen nicht geregelten Themen der dispositiven, gesetzlichen Ordnung überlassen. Entspricht ein Rechtsgeschäft einem gesetzlich geordneten Typ und kann die Regelungslücke unter Heranziehung des dispositiven Rechts in einer sinnvollen Weise geschlossen werden, so geht die Lückenfüllung aus dem Gesetz somit einer ergänzenden Auslegung vor. Hingegen ist eine ergänzende Auslegung erforderlich, wenn die Beteiligten die abdingbare gesetzliche Regelung nicht wollten oder die gesetzliche Regelung wegen unzutreffender Vorstellungen der Beteiligten zu gänzlich anderen Konsequenzen als den angestrebten führt.

Auch nach diesem Maßstab geht die Lückenfüllung aus der gesetzlichen Regelung in § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG einer ergänzenden Auslegung vor. Die von den Parteien gewählte Gestaltung des Arbeitsverhältnisses entspricht dem durchnormierten Geschäftstyp der Arbeit auf Abruf im Sinne des § 12 Abs. 1 S. 1 TzBfG. Die Regelungslücke hinsichtlich des Umfangs der Arbeitszeit kann unter Heranziehung des § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG, wonach eine wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden als vereinbart gilt, sinnvoll geschlossen werden. Die genannte Norm regelt ausdrücklich den Fall, dass eine Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit nicht festgelegt ist. Bereits der Wortlaut der Norm, der nicht wie bei anderen Auslegungsregelungen von „im Zweifel“ spricht, legt nahe, dass bei Fehlen einer Vereinbarung zur Arbeitszeit vorrangig von der in § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG normierten Rechtsfolge auszugehen ist (so auch Uffmann/Kredig, NZA 2020, 137, 141).

Dieses Verständnis steht auch im Einklang mit dem Normzweck. Durch die Regelung des § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG soll für Arbeitnehmer, die Arbeit auf Abruf leisten, mehr Sicherheit in Bezug auf ihre Planung und ihr Einkommen erzielt werden. Für Arbeitgeber soll ein wirksamer Anreiz gesetzt werden, tatsächlich eine bestimmte Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit festzulegen (BT-Drucks. 19/3452, S. 20). Anders als bei der ergänzenden Vertragsauslegung, deren Ergebnis von den Umständen des Einzelfalls abhängt, ist bei einem Rückgriff auf § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG das für das Arbeitsverhältnis maßgebliche Arbeitszeitvolumen eindeutig. Zweifel über den Umfang der geschuldeten Arbeitszeit und des zu erwartenden Entgelts können nicht entstehen. Arbeitgeber werden angehalten, entsprechend der gesetzlichen Vorgabe in § 12 Abs. 1 S. 2 TzBfG eine bestimmte Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit festzulegen. Denn wenn eine solche Vereinbarung unterbleibt, kann dieser nicht von einem einseitigen Leistungsbestimmungsrecht nach § 106 Satz 1 GewO bezogen auf den variablen Anteil der Arbeitsleistung Gebrauch machen. Die Regelung des § 12 Abs. 2 TzBfG, die ein solches Leistungsbestimmungsrecht einräumt, gilt nach ihrem Wortlaut nur für den Fall der Vereinbarung einer Mindest- bzw. Höchstarbeitszeit. Sie kommt nicht zum Tragen, wenn sich die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit mangels Festlegung durch die Vertragsparteien aus § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG kraft Fiktion ergibt. Der Gesetzeszweck gebietet es insofern nicht, zum Schutz des Arbeitnehmers die für das Arbeitsverhältnis maßgebliche Arbeitszeit im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung unter Berücksichtigung der bisherigen Vertragsabwicklung zu ermitteln, wenn in der Vergangenheit regelmäßig mehr als 20 Stunden wöchentlich gearbeitet wurde (so aber LAG Düsseldorf, Urt. v. 29.7.2015 – 7 Sa 313/15 Rz. 43; Arnold in Arnold/Gräfe, TzBfG, 5. Aufl. 2021, § 12 Rn. 56; Preis in ErfK, 23. Aufl. 2023, § 12 TzBfG Rn. 16; Bayreuther in BeckOK Arbeitsrecht, 65. Edition, Stand 1.9.2022, § 12 TzBfG Rn. 8b; Bayreuther, NZA 2018, 1577,1581). Vielmehr erweist sich das Abstellen auf die Fiktion des § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG als interessengerecht: Hat der Arbeitnehmer bei Eingreifen der Fiktion des § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG in der Vergangenheit eine über die wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden hinausgehende Arbeitsleistung erbracht, so hat er einen Anspruch auf Vergütung für die über 20 Stunden hinaus erbrachte Mehrarbeit. Für die Zukunft besteht aber keine Verpflichtung des Arbeitnehmers, über die wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden hinaus zur Arbeit auf Abruf zur Verfügung zu stehen, weil § 12 Abs. 2 TzBfG nicht zur Anwendung kommt. Umgekehrt trifft auch den Arbeitgeber keine Verpflichtung, den Arbeitnehmer über die wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden hinaus zu beschäftigen (ähnlich Boecken in Boecken/Joussen, aaO. Rn. 23).

RA FAArbR Axel Groeger, Bonn
www.redeker.de

RA FAArbR Axel Groeger ist Partner bei Redeker Sellner Dahs, Bonn. Er gehört zum festen Autorenteam des Arbeits-Rechtsberaters und ist Herausgeber des Handbuchs Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst.

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