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Vorzeitige Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – nicht immer besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats

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Eine jüngst ergangene Entscheidung des BAG verdeutlicht, dass bei der Prüfung, ob ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 BetrVG besteht, vorrangig geprüft werden sollte, ob überhaupt ein kollektiver Tatbestand vorliegt. Dies eröffnet Arbeitgebern Gestaltungsmöglichkeiten. Nach dem Sachverhalt, der der Entscheidung zugrunde liegt, hatte der Arbeitgeber die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung früher als im Gesetz vorgesehen verlangt.

1. Unterscheidung zwischen Nachweispflicht und Feststellungspflicht

Arbeitnehmer, die arbeitsunfähig sind, müssen ihrem Arbeitgeber grundsätzlich keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mehr vorlegen. Nach § 5 Abs. 1a EFG müssen Sie eine solche Arbeitsunfähigkeit lediglich noch vom Arzt feststellen lassen. Der Arbeitgeber muss dann über seine Krankenkasse eine elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) abrufen. In der Praxis wird häufig übersehen, dass in Ausnahmefällen weiter eine Nachweispflicht mittels Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung besteht (ausf. zur Unterscheidung und zu den rechtlichen Folgen einer Pflichtverletzung Kleinebrink, DB 2023, 133). Sowohl die Erfüllung der Feststellungspflicht als auch die Erfüllung der Nachweispflicht kann der Arbeitgeber früher als im Gesetz vorgesehen verlangen. Dies ermöglichen ihm die § 5 Abs. 1a Satz 3 EFZG iVm § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG und § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG.

2. Beachtung des erzwingbaren Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG

Allerdings hat der Arbeitgeber insoweit Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates zu beachten. In beiden Fällen kann es sich um eine Frage der Ordnung des Betriebes und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb handeln, sodass das erzwingbare Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG eingreift. In der Vergangenheit hat das BAG angenommen, dass die Ordnung des Betriebs und nicht nur das Arbeitsverhalten des Arbeitnehmers betroffen ist, wenn eine vorzeitige Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verlangt wird (grundlegend BAG v. 25.1.2000 – 1 ABR 3/99; s. auch BAG v. 23.8.2016 – 1 ABR 43/14).

3. Das Vorliegen eines kollektiven Tatbestands als Voraussetzung der Mitbestimmung

Bevor man bei § 87 Abs. 1 BetrVG prüft, ob das mitbestimmungspflichtige Ordnungsverhalten oder das mitbestimmungsfreie Arbeitsverhalten vorliegt, muss man aber bedenken, dass vorrangig entscheidend ist, ob es sich überhaupt um einen kollektiven Tatbestand handelt. Nur dann greift § 87 BetrVG ein. Wie wichtig diese Reihenfolge ist, verdeutlicht eine jüngst ergangene Entscheidung des BAG vom 15. 11. 2022 – 1 ABR 5/22.

Für das Vorliegen eines kollektiven Tatbestands muss sich eine Regelungsfrage stellen, die über eine ausschließlich einzelfallbezogene Rechtsausübung hinausgeht und kollektive Interessen der Arbeitnehmer des Betriebs berührt. Nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG sind nur solche – das Verhalten der Arbeitnehmer im Betrieb beeinflussenden und koordinierenden – Maßnahmen mitbestimmungspflichtig, die nicht auf individuellen Besonderheiten des einzelnen Arbeitsverhältnisses beruhen. Daher ist die der Mitbestimmung unterliegende Gestaltung des betrieblichen Zusammenlebens lediglich dann betroffen, wenn die auf das Ordnungsverhalten gerichtete Maßnahme des Arbeitgebers auf einer Regel oder einer über den Einzelfall hinausgehenden Handhabung beruht.

Wichtige Gestaltungsmöglichkeiten folgen aus den Anhaltspunkten, aufgrund derer das BAG nun eine solche Regel oder eine über den Einzelfall hinausgehende Handhabung verneint hat. In dem entschiedenen Fall hatte der Arbeitgeber, der mehr als 1000 Arbeitnehmer beschäftigt, in annähernd drei Jahren in 17 Fällen eine vorzeitige Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verlangt. Diese geringe Zahl spricht bereits nach Ansicht des BAG gegen eine Regel. Im Vorfeld fand außerdem immer ein bestimmtes Verfahren statt. Bevor es zu einer solchen „Attestauflage“ kam, musste immer eine Abstimmung zwischen dem jeweiligen Fachvorgesetzten des betroffenen Arbeitnehmers und dem Personalleiter erfolgen. Ein solches Verfahren, bei dem zunächst zwischen jeweils unterschiedlichen Personen ein Einvernehmen über die Geltendmachung einer vorzeitigen Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erzielt wurde, liegt es nach Ansicht des BAG nahe, dass dieses gerade nicht regelhaft erfolgen sollte, sondern auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls bezogen war. Es war auch nicht ersichtlich, dass immer dieselben Voraussetzungen für eine entsprechende Entscheidung des Arbeitgebers vorliegen mussten

4. Gestaltungsmöglichkeiten

Aus Sicht eines Arbeitgebers kann damit bei einem vorzeitigen Verlangen der Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder bei einem vorzeitigen Verlangen der Erfüllung der Feststellungspflicht ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats § 87 Abs. 1 Nr. 1BetrVG dadurch ausgeschlossen werden, dass man ein Verfahren schafft, in dem einzelfallabhängig geprüft wird, ob von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht wird. Allerdings darf dann die Zahl der Fälle, in denen es zu einer vorzeitigen Verpflichtung der Arbeitgeber kommt, nicht so groß sein, dass aus ihnen allein auf eine Regel oder eine über den Einzelfall hinausgehende Handhabung geschlossen werden kann.

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