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Offenkundige Schwerbehinderung – offenkundig?

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Schwerbehinderte Arbeitnehmer genießen Sonderkündigungsschutz. Problematisch wird die Anwendung dieses Schutzes, wenn der Arbeitgeber nichts von der Schwerbehinderung weiß. Mangels Kenntnis greift der Schutz nur, sofern sich der Schwerbehinderte innerhalb drei Wochen nach Zugang der Kündigung auf ihn beruft (d.h. dem Arbeitgeber mitteilt und Klage erhebt). Doch wann ist von Unkenntnis oder Kenntnis auszugehen – kann dem Arbeitgeber auch ein „Kennenmüssen“ unterstellt werden und falls ja, wann soll dieses vorliegen?

Das Employment Appeal Tribunal (EAT) in London hat sich kürzlich mit einer änlichen Frage für den Bereich des Antidiskriminierungsrechts beschäftigt (EAT 5.2.2013 Jennings / Barts and London NHS Trust [2012 UKEAT 0056]) . Im konkreten Fall fehlte ein seit bereits neun Jahren beschäftigter Arbeitnehmer immer wieder aufgrund kurzzeitiger Erkrankungen, die meisten scheinbar von einer Angina sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung bedingt. Nach ausgesprochener Kündigung klagte der Arbeitnehmer wegen ungerechtfertigter Kündigung sowie Diskriminierung Behinderter. Medizinische Gutachten vor Gericht bewiesen, dass er unter schwerer Depression und paranoider Persönlichkeitsstörung litt, das Vorliegen einer Behinderung wurde bejaht. Der beklagte Arbeitgeber akzeptierte diese Feststellung, stritt jedoch ab, von der Behinderung gewusst zu haben oder davon hätte wissen zu müssen. Zwar kannte der Arbeitgeber die ihm vorliegende (falsche) Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung, doch argumentierte er, dass dies allein auf keine Behinderung hingedeutet hätte. Das EAT entschied dazu, dass die spätere Feststellung einer falsch benannten mentalen Beeinträchtigung nur bedeute, dass die Diagnose umbenannt wird; der Arbeitegeber habe die Behinderung kennen müssen („imputed knowledge„).

Auch für das deutsche Recht wirft dies die Frage auf, wann ein „Kennenmüssen“ des Arbeitgebers anzunehmen ist. Das Bundesarbeitsgericht nimmt dies an, wenn die Schwerbehinderung offenkundig ist, d.h. bei schwerwiegenden und ohne weiteres erkennbaren körperlichen Behinderungen wie z.B. Taubheit. Dabei muss jedoch nicht nur die Behinderung an sich, sondern auch der Grad von mindestens fünfzig offenkundig sein. Trotz allem besteht die Gefahr, dass Offenkundigkeit aufgrund der Umstände des jeweiligen Einzelfalles und damit letztlich ein „Kennenmüssen“ des Arbeitgebers angenommen wird. Daher kann Arbeitgebern nur geraten werden, im Zweifel einen vorsorglichen Zustimmungsantrag beim Integrationsamt zu stellen oder – noch besser – den Arbeitnehmer (unterstellt, das Arbeitsverhältnis besteht sechs Monate) vor beabsichtigter Kündigung nach einer etwaigen Schwerbehinderung zu fragen.

M. Reufels / S. Weinfurtner

 

 

 

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