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Tarifvertragliche Nachtarbeitszuschläge: 400 Revisionsverfahren vor dem BAG – Nach dem EuGH ist nun das BVerfG am Zug

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Tarifvertragliche Nachtarbeitszuschläge: 400 Revisionsverfahren vor dem BAG – Nach dem EuGH ist nun das BVerfG am Zug

Prof. Dr. Wolfgang Kleinebrink

In einem Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV hat der EuGH am 7.7.2022 entschieden, dass mit einer tarifvertraglichen Regelung, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Vergütungszuschlag vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, die europäische Arbeitszeitrichtlinie nicht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) durchgeführt wird (EuGH v. 7.7.2022 – C-257/21 und C-258/21). Selbst täglich mit dem Arbeitsrecht befasste Praktiker werden geneigt sein, diese Entscheidung nicht weiter zu beachten. Ihre Brisanz wird aber bereits dadurch deutlich, dass zu dem Streitgegenstand der Höhe tarifvertraglicher Nachtarbeitszuschläge noch etwa 400 Revisionsverfahren beim BAG anhängig sind. Ferner wird in Presseberichten die Auffassung vertreten, nun sei es gleichsam Aufgabe des BAG, das sich mit dem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gewandt hatte, die Verfahren zu entscheiden. Hierbei wird aber übersehen, dass noch ein Verfahren bei dem BVerfG anhängig ist, das die Verfassungsmäßigkeit von Eingriffen in die Tarifautonomie durch Urteil im Zusammenhang mit tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlägen zum Streitgegenstand hat (BVerfG 1 BvR 1109/21).

  1. Das Vorabentscheidungsersuchen

In einer Entscheidung vom 9.12.2020 (10 AZR 332/20) legte das BAG dem EuGH nach Art. 267 AEUV die Frage vor, ob die unterschiedliche Behandlung von Gruppen von Arbeitnehmern, die regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit leisten, mit dem europäischen Recht vereinbar ist. Streitgegenstand war eine Zahlungsklage eines Arbeitnehmers, die sich gegen die unterschiedlichen Höhen von tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlägen bei unregelmäßiger Nachtarbeit in Höhe von 50 % je Stunde und bei regelmäßiger Nachtarbeit in Höhe von 20 % je Stunde richtet. Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips, das in Art. 51 Abs. 1 GRCh geregelt ist, sah sich der EuGH nicht in der Lage, in der Sache zu entscheiden. Ziel der Arbeitszeitrichtlinie sei es, den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Sie finde grundsätzliche keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer, sodass die entsprechenden Rechtsfragen allein von den nationalen Gerichten zu entscheiden seien.

  1. Das Verfahren vor dem BVerfG

Das vor dem BVerfG anhängige Verfahren richtet sich gegen eine Entscheidung des BAG vom selben Tag (10 AZR 334/20). Hier streiten die Parteien ebenfalls über die Höhe des tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlags. Ein auf das Arbeitsverhältnis anwendbarer Tarifvertrag sieht für Arbeiten in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr einen Zuschlag in Höhe von 25 % vor. Demgegenüber erhalten Arbeitnehmer, die während dieses Zeitraums arbeiten ohne in einen Schichtplan eingebunden zu sein, einen Zuschlag in Höhe von 50 %. Das BAG hat dem klagenden Arbeitnehmer, der Nachtschicht leistete, die Differenzvergütung auf der Basis eines Zuschlags in Höhe von 50 % zugesprochen. Es erfolgte damit gleichsam zu seinen Gunsten eine Tariferhöhung durch Urteil. Da durch diese Entscheidung der Rechtsweg erschöpft war, konnte der unterlegene Arbeitnehmer nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG Verfassungsbeschwerde einlegen.

  1. Verfassungsrechtliche Bedenken

Die Entscheidung des EuGH ist damit nur der vorläufige Endpunkt einer höchstrichterlichen Rechtsprechung zur unterschiedlichen Höhe von tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlägen. Ausgangspunkt war bereits im Frühjahr 2018 ein Urteil des BAG zu Regelungen in einem Tarifvertrag der Textilindustrie, die Nachtarbeitszuschläge in unterschiedlicher Höhe für Nachtarbeit im Schichtsystem und Nachtarbeit außerhalb eine Schichtsystems vorsehen (BAG v. 21.3.2018 – 10 AZR 34/17, ausf. hierzu Kleinebrink, NZA 2019, 1458).

Die nun vor dem BVerfG anhängige Entscheidung des BAG begegnet erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie betrifft das Verhältnis der verfassungsrechtlich durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie und dem allgemeinen Gleichheitsgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Tarifautonomie ist wesentlicher Kern der Koalitionsfreiheit. Arbeitnehmer bedürfen bei tarifvertraglichen Entgeltregelungen nicht den Schutz des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Rechte der Arbeitnehmer werden im Rahmen der Tarifverhandlungen durch die Gewerkschaften gewahrt. Außerdem muss den Tarifvertragsparteien zur Wahrung der Tarifautonomie ein großer Gestaltungsspielraum bei der Schaffung tarifvertraglichen Regelungen verbleiben. Ein Verstoß kann nur dann vorliegen, wenn Differenzierungen unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr zu rechtfertigen und damit willkürlich sind. Dies ist bei Nachtarbeitszuschlägen in unterschiedlicher Höhe nicht der Fall. Weitere gegen das Urteil des BAG sprechende verfassungsrechtliche Gründe kommen hinzu. (ausf. Kleinebrink Anm. AP Nr. 21 zu § 6 ArbZG).

  1. Wie geht es weiter?

Sieht das BVerfG die Entscheidung des BAG als nicht zu rechtfertigender Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie an, müsste das BAG neu entscheiden. Das BVerfG müsste nämlich nach § 95 Abs. 2 BVerfGG das Urteil des AG aufheben und den Rechtsstreit an das BAG als dem zuständigen Gericht zurückverweisen. Selbst wenn das BVerfG das Urteil des BAG für verfassungsgemäß hält, ist nicht sicher, wie die noch anhängigen etwa 400 Revisionsverfahren zu vergleichbaren Streitgegenständen vom BAG entschieden werden. Mittlerweile hat der zuständige 10. Senat eine andere Besetzung.

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