Otto Schmidt Verlag


Länder-Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Tarifvertragsgesetzes

Die Länder Bremen, Berlin und Thüringen haben am 21.04.2021 einen Gesetzesantrag im Bundesrat eingereicht, mit dem durch eine Änderung des § 5 TVG die Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen beabsichtigt wird.

I. Verfahren

21.04.2021 Gesetzesantrag der Länder an den Bundesrat

                             

II. Hintergrund und Ziele

Seit mindestens 20 Jahren ist die Tarifbindung branchenübergreifend rückläufig. Waren im Jahr 2000 bundesweit noch mehr als 40 % der Betriebe tarifgebunden, sind es zuletzt (2019) nur noch 27 %. Entsprechend ist im gleichen Zeitraum der Anteil der Beschäftigten in den tarifgebundenen Betrieben von knapp 70 % auf rund 52 % zurückgegangen. In einzelnen Wirtschaftszweigen, wie z.B. dem Gastgewerbe oder dem Handel, erodieren Tarifstrukturen. Dies sind deutliche Anzeichen für eine Funktionsschwäche der Tarifautonomie.

Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet jedoch ein funktionsfähiges Tarifvertragssystem. Die Tarifverträge müssen insbesondere die ihnen zugedachte Ordnungs- und Befriedungsfunktion im Arbeits- und Wirtschaftsleben erfüllen können. Das voraussetzt, dass ihnen durch hinreichende Verbreitung prägende Bedeutung für die Gestaltung der Beschäftigungsverhältnisse zukommt. Zur Erreichung dieses Zieles muss der Gesetzgeber einer nachhaltigen Strategie folgen: Unter Berücksichtigung sowohl der strukturellen Ursachen der Funktionsschwäche als auch deren Wirkungen und Folgen muss er den rechtlichen Rahmen zur Wahrnehmung von Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie so anpassen, dass diese ihren Sinn wieder erfüllen können.

Ein Instrument dieser Strategie zur Stärkung der tariflichen Ordnung kann die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen sein. Zu diesem Ziel sollte bereits das im Jahr 2014 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) beitragen. In der Praxis wurden allerdings seither weder der Bestand an allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen noch die Zahl der jährlich vorgenommenen Allgemeinverbindlicherklärungen wesentlich gesteigert. Das gleiche Ziel verfolgt also der aktuelle Gesetzesentwurf der Länder Bremen, Berlin und Thüringen: Die möglichen Hemmnisse für die Beantragung von Allgemeinverbindlicherklärungen sollen durch Änderung des § 5 TVG überwunden werden; durch die daraus resultierte Erhöhung der Anzahl allgemeinverbindlicher Tarifverträge soll eine Stärkung der Tariflandschaft und der damit einhergehenden Beschäftigungsbedingungen erreicht werden.

III. Wesentliche Inhalte

Zur Erreichung dieses Zwecks sollen mögliche Hemmnisse sowohl für die Antragstellung als auch für die Entscheidung über die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen ausgeräumt werden. Dazu werden im Wesentlichen vier Maßnahmen ergriffen.

  • Die einseitige Antragstellung wird wieder möglich (§ 5 Abs. 1 TVG). Es wird insbesondere die bis zum Jahr 2014 geltende Regelung wieder eingeführt, nach der nicht unbedingt beide - wie gerade angefordert - sondern auch nur eine der beiden Tarifvertragsparteien den Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung stellen kann. Somit würde der Annahme begegnet, wonach restriktive Interpretationen der gesetzlichen Voraussetzungen oder auch eine mögliche Zurückhaltung, strukturelle Schwäche der eigenen Branche öffentlich darzustellen, einzelne Branchenverbände davon abhalten könnten, überhaupt einen Antrag zu stellen. Sollten aus der Sicht der nichtantragstellenden Tarifpartei inhaltliche Bedenken gegen die Geltungserstreckung des eigenen Tarifvertrages auf Tarifaußenseiter bestehen, können diese im Verfahren zur Allgemeinverbindlicherklärung eingebracht werden.
  • Die Regelbeispiele, die ein öffentliches Interesse an einer Allgemeinverbindlicherklärung begründen können, werden näher definiert (§ 5 Abs. 2 TVG). Berücksichtigung finden dabei sowohl die Erwägungen des Gesetzgebers bei Erlass des Tarifautonomiestärkungsgesetzes als auch die vom BAG entwickelten Kriterien zur Feststellung des öffentlichen Interesses an einer Allgemeinverbindlicherklärung in Gestalt der gesetzlichen Regelbeispiele. Durch Konkretisierung der tatbestandsbegründenden Merkmale wird transparenter, welche Voraussetzungen für die staatliche Abstützung einer bestehenden tariflichen Ordnung sprechen können.
  • Für beiderseitige Anträge wird der Abstimmungsmodus im Tarifausschuss geändert (§ 5 Abs. 3 TVG). Das bisherige Erfordernis des Einvernehmens zwischen BMAS und Tarifausschuss, ließ eine Allgemeinverbindlicherklärung nur dann zu, wenn die Mehrheit der Mitglieder im Tarifausschuss sich für die Erklärung aussprach. Im Falle einer Pattsituation scheiterte also der Antrag. Ziel ist, solche Konstellationen in der Zukunft zu vermeiden. Gemeinsame Anträge können daher künftig nur mit der Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Tarifausschusses abgelehnt werden. Der gemeinsamen Entscheidung der Sozialpartner, den Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären, soll also höheres Gewicht zukommen. Für den Fall der Ablehnung des Antrags wird aus Transparenzgründen ein Begründungserfordernis eingeführt.
  • Für einseitige Anträge werden sowohl die Zusammensetzung als auch der Abstimmungsmodus des Tarifausschusses modifiziert (§ 5 Abs. 4 TVG). Es wird insbesondere der Tarifausschuss um ein vorsitzendes, stimmberechtigtes Mitglied erweitert, das sowohl von Arbeitgebern als auch von Arbeitnehmern akzeptiert wird. Die erweiterte Besetzung dient dazu, Pattsituationen im Tarifausschuss zu vermeiden, wenn zwischen den ordentlichen Mitgliedern des Tarifausschusses keine einheitliche oder Mehrheitsentscheidung herbeigeführt werden kann. In solchen Fällen entscheidet die Stimme des vorsitzenden Mitglieds. Kommt die Zustimmung für einen einseitigen Antrag nicht zustande, soll der Tarifausschuss aus Transparenzgründen die wesentlichen Entscheidungsgründe darlegen.


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 04.05.2021,
Quelle: tamatia Kynigopoulou, Institut für Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht der Universität zu Köln