Otto Schmidt Verlag

LAG Hamm v. 5.9.2025 - 14 SLa 145/25

Online-Krankschreibung ohne Arztgespräch kann fristlose Kündigung rechtfertigen

Eine online erworbene Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung "ohne Gespräch" entspricht nicht den Voraussetzungen der in § 4 Abs. 5 Satz 1 und 2 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie i.d.F. vom 7.12.2023 niedergelegten medizinischen Standards. Eine Abmahnung ist in einem solchen Fall aufgrund der Schwere des Pflichtverstoßes entbehrlich, eine fristlose Kündigung gerechtfertigt.

Der Sachverhalt:
Der Kläger war bei der Beklagten seit 2018 zunächst als Trainee und sodann als IT-Consultant beschäftigt. Im Betrieb der Beklagten gibt es keinen Betriebsrat. Der Kläger hatte sich bei der Beklagten für den Zeitraum vom 19. bis 23.08.2024 als arbeitsunfähig erkrankt gemeldet. Er erwarb im Internet kostenpflichtig eine Bescheinigung über eine Arbeitsunfähigkeit. Auf der Website des Online-Anbieters wurde ein „AU-Schein ohne Gespräch“ und ein „AU-Schein mit Gespräch“ angeboten, wobei die Bescheinigung mit Gespräch mit höheren Kosten verbunden war. Zudem befand sich dort der Zusatz: „Beim AU-Schein OHNE Arztgespräch solltest Du Deinen Arbeitgeber sofort um Akzeptanz der AU bitten, insb. wenn er misstrauisch ist.“

Optisch entsprach die Bescheinigung weitestgehend dem Vordruck, der vor Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als Muster 1b (1.2018) zur Vorlage beim Arbeitgeber durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in Papierform vorgesehen war. Die auf den Namen des Klägers und unter Nennung von Adresse, Geburtsdatum und gesetzlicher Krankenkasse ausgestellte Bescheinigung vom 21.8.2024 enthielt die Angaben, dass es sich um eine Erstbescheinigung handele, der Kläger seit dem 19.8.2024 arbeitsunfähig sei und wies unter dem Feld „Arzt-Nr.“ die Bezeichnung „Privatarzt“ aus.

Am 13.9.2024 wurde die Personalabteilung der Beklagten darüber informiert, dass es sich beim AU-Bescheid des Klägers möglicherweise um eine Fälschung handeln könnte. Die Abteilung Abwesenheiten hatte zuvor erfolglos versucht, über den elektronischen Datenaustausch mit der Krankenkasse etwaige elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen abzurufen. Diese lagen nicht vor. Daraufhin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich zum nächstmöglichen Termin.

Das Arbeitsgericht hat der hiergegen gerichteten Kündigungsschutzklage stattgegeben. Der nach § 626 Abs. 1 BGB erforderliche wichtige Grund liege nicht vor. Auf die Berufung der Beklagten hat das LAG das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen.

Die Gründe:
Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten aufgelöst worden. Die Kündigung beruhte auf einem wichtigen Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB.

Das Verhalten des Klägers war „an sich“ geeignet, einen wichtigen Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB zu bilden. Durch die Vorlage der Bescheinigung zum Nachweis seiner Arbeitsunfähigkeit suggerierte der Kläger der Beklagten bewusst wahrheitswidrig, es habe zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ein Kontakt mit einem Arzt stattgefunden. Dies stellte eine Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflicht (§ 241 Abs. 2 BGB) dar, die aufgrund des damit verbundenen Vertrauensbruches als „an sich“ wichtiger Grund nach § 626 Abs. 1 BGB geeignet ist. Ob der Kläger tatsächlich arbeitsunfähig war oder davon ausging, tatsächlich arbeitsunfähig zu sein, war insoweit unerheblich.

Die Bescheinigung erweckte für einen unbefangenen Dritten den Eindruck, es handele sich um eine ärztliche Bescheinigung, die aufgrund eines ärztlichen Kontakts zustande gekommen sei. Auch das äußere Erscheinungsbild der Bescheinigung verstärkt die Annahme eines ärztlichen Kontakts. Dem Kläger war auch bewusst, dass kein ärztlicher Kontakt stattgefunden hatte, ein solcher Eindruck aber durch die vorgelegte Bescheinigung bei der Beklagten erweckt werden konnte. Ihm war bekannt, dass entgegen des Inhalts der Bescheinigung keine ärztliche Untersuchung stattgefunden hatte. Zudem wurde ihm durch die Hinweise auf der Website unmissverständlich vor Augen geführt, dass es sich um eine gegen Gebühr erworbene Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung handelte, die nicht nach den allgemeinen medizinischen Grundregeln zustande gekommen war.

Insofern hatte sich der Kläger eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschlichen. Dieses Verhalten war geeignet, einen wichtigen Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Der Beweiswert der Bescheinigung des Klägers vom 21.8.2024 war wegen der Nichteinhaltung der in § 4 Abs. 5 Satz 1 und 2 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie i.d.F. vom 7.12.2023 niedergelegten medizinischen Standards erschüttert. Der Beklagten war die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile - jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist - nicht zumutbar. Eine Abmahnung war aufgrund der Schwere des Pflichtverstoßes entbehrlich.

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Aufsatz
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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 10.11.2025 13:19
Quelle: Justiz NRW

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