Otto Schmidt Verlag

BAG v. 22.1.2025 - 7 ABR 23/23

Keine Definition des Begriffs „Hauptbetrieb“ - Begriffsbestimmung durch Auslegung

Der Wahlvorstand kann die schriftliche Stimmabgabe nur für Betriebsteile und Kleinstbetriebe, die räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt sind, beschließen. Für den Fall, dass Betriebsteile oder Kleinstbetriebe räumlich weit entfernt liegen, ist hingegen nicht die Möglichkeit geregelt, auch für den Hauptbetrieb die schriftliche Stimmabgabe anzuordnen. Das BetrVG enthält – ebenso wie die Wahlordnung – keine Definition des Begriffs „Hauptbetrieb“. Was hierunter zu verstehen ist, ist daher durch Auslegung zu ermitteln.

Der Sachverhalt:
Die Arbeitgeberin unterhält bundesweit Lebensmittel-Discount-Filialen. Seit 2010 finden bei ihr Betriebsratswahlen auf der Grundlage eines im Dezember 2009 abgeschlossenen „Tarifvertrags nach § 3 BetrVG“ statt. Der Wahlvorstand hatte am 24.3.2022 für den Bezirk „NordWest“ ein Wahlausschreiben erlassen. Danach wurde für alle Mitarbeiter die schriftliche Stimmabgabe/Briefwahl beschlossen. Die Briefwahlunterlagen sollten den Wahlberechtigten unaufgefordert zugehen. Die Betriebsratswahl fand sodann am 6.5.2022 als reine Briefwahl statt. Sie führte zur Wahl eines 35-köpfigen Betriebsrats.

Die Antragsteller begehrten, die Betriebsratswahl für unwirksam zu erklären. Sie waren der Ansicht, die Betriebsratswahl sei anfechtbar, da sie als reine Briefwahl durchgeführt worden sei, ohne dass einer der Ausnahmetatbestände des § 24 WO vorliege. Der Betriebsrat hielt dagegen, die Anordnung der generellen Briefwahl sei nicht zu beanstanden. Die räumliche Entfernung der über 400 Filialen im Bezirk „NordWest“ rechtfertige bei Fehlen eines Hauptbetriebs in diesem Bezirk eine generelle Briefwahl. Die Arbeitgeberin hat vorgebracht, Sinn der Briefwahl sei, den Wahlberechtigten die Teilnahme an der Wahl zu erleichtern. Das Fehlen eines Hauptbetriebs schließe nicht aus, dass es räumlich weit voneinander entfernte Kleinstbetriebe bzw. Betriebsteile gebe.

Das Arbeitsgericht hat den Antrag abgewiesen. Das LAG hat die Entscheidung bestätigt. Auf die Rechtsbeschwerde der Antragsteller hat das BAG den Beschluss der Vorinstanz aufgehoben und die Sache zur neuen Anhörung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.

Die Gründe:
Es lagen die die materiellen Voraussetzungen einer Wahlanfechtung nach § 19 Abs. 1 BetrVG vor. Die Sache war jedoch nicht zur Entscheidung reif. Trotz der aufgezeigten Rechtsverletzung könnte sich die Entscheidung des LAG aus anderen Gründen als richtig darstellen.

Das LAG hat zu Unrecht angenommen, der Wahlvorstand habe auf der Grundlage der Regelung des § 24 Abs. 3 WO die schriftliche Stimmabgabe für alle Wahlberechtigten beschließen können. Danach kann der Wahlvorstand für Betriebsteile und Kleinstbetriebe, die räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt sind, die schriftliche Stimmabgabe beschließen. Die generelle Anordnung der schriftlichen Stimmabgabe ist für bestimmte Betriebsbereiche nicht in das Ermessen des Wahlvorstands gestellt, sondern nur für solche zum Wahlbetrieb gehörenden Betriebsteile oder Kleinstbetriebe zulässig, die räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt sind (BAG 16.3.2022 – 7 ABR 29/20). § 24 Abs. 3 BetrVG stellt keine Grundlage für die Anordnung der schriftlichen Stimmabgabe für den gesamten Betrieb dar. Die Vorschrift setzt - wie § 4 Abs. 1 und 2 BetrVG - das Vorliegen eines Hauptbetriebs voraus. Für diesen Hauptbetrieb ist die Anordnung der schriftlichen Stimmabgabe nicht vorgesehen.

Dafür spricht schon der klare Wortlaut der Norm. Der Wahlvorstand kann die schriftliche Stimmabgabe nur für Betriebsteile und Kleinstbetriebe, die räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt sind, beschließen. Für den Fall, dass Betriebsteile oder Kleinstbetriebe räumlich weit entfernt liegen, ist hingegen nicht die Möglichkeit geregelt, auch für den Hauptbetrieb die schriftliche Stimmabgabe anzuordnen. Der Zweck der Vorschrift gebietet keine Erweiterung der Briefwahlmöglichkeit auf den gesamten Betrieb bzw. den Hauptbetrieb. Für die in dem Hauptbetrieb(steil) beschäftigten Wahlberechtigten ist es – vorbehaltlich der in § 24 Abs. 1 und 2 WO geregelten Sachverhalte – unproblematisch möglich, an der Urnenwahl teilzunehmen. Es besteht kein Anlass, für sie die Briefwahl anzuordnen.

Infolgedessen lag in der Anordnung der schriftlichen Stimmabgabe für alle Wahlberechtigten für die Wahl am 6.5.2022 ein Verstoß gegen eine wesentliche Vorschrift des Wahlverfahrens. Das BetrVG enthält – ebenso wie die Wahlordnung – keine Definition des Begriffs „Hauptbetrieb“. Was hierunter zu verstehen ist, ist daher durch Auslegung zu ermitteln. Das LAG hatte jedoch nicht näher definiert, unter welchen Voraussetzungen es vom Vorliegen eines Hauptbetriebs ausgegangen wäre.

Sollte es entgegen der Auffassung des LAG einen Hauptbetrieb i.S.v. § 24 Abs. 3 WO im Bezirk „NordWest“ gegeben haben, so hätte zumindest für die Wahlberechtigten in diesem Hauptbetrieb keine schriftliche Stimmabgabe angeordnet werden dürfen. Ginge man mit dem LAG davon aus, dass es an einem Hauptbetrieb fehlte, so eröffnete dies aber nicht die Möglichkeit, in analoger Anwendung der Regelung die schriftliche Stimmabgabe für alle Wahlberechtigten anzuordnen. Weil § 24 Abs. 3 WO die Anordnung der schriftlichen Stimmabgabe für den gesamten Betrieb nicht als Rechtsfolge vorsieht, kann dieses Ergebnis auch nicht durch eine analoge Anwendung der Regelung herbeigeführt werden.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 10.06.2025 11:58
Quelle: BAG online

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