Otto Schmidt Verlag

LAG Rheinland-Pfalz v. 10.10.2024 - 5 TaBV 15/24

Errichtung einer Einigungsstelle: Rechtsschutzbedürfnis noch während der „Informationsphase“?

Namentlich durch die verkürzten Fristen, die Alleinentscheidung des Vorsitzenden in beiden Instanzen und die begrenzte Zuständigkeitsprüfung (§ 100 Abs. 1 Satz 2 ArbGG) hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass bei Meinungsverschiedenheiten in einer beteiligungspflichtigen Angelegenheit möglichst rasch eine Einigungsstelle zur Verfügung stehen soll, um den Konflikt zu regeln. Der Verhandlungsanspruch muss vor Einleitung des Verfahrens nach § 100 ArbGG nicht objektiv erschöpft sein.

Der Sachverhalt:
Die Arbeitgeberin ist ein Unternehmen, das sich mit Herstellung und Vertrieb von Kunststofffolien beschäftigt. An den Standorten U. (Westerwald) und Y. (Oberbayern) besteht jeweils ein Gemeinschaftsbetrieb. In U. werden rund 680 Arbeitnehmer, in Y. rund 320 Arbeitnehmer beschäftigt. An jedem Standort wurde ein gemeinsamer örtlicher Betriebsrat gewählt. Außerdem gibt es einen Gesamtbetriebsrat und einen Wirtschaftsausschuss. Der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats ist auch Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses.

Am 29.4.2024 hatte die Geschäftsführung sowohl den Gesamtbetriebsrat als auch den Wirtschaftsausschuss darüber unterrichtet, dass eine Restrukturierung geplant sei. Das unternehmerische Konzept beinhalte insbesondere einen Personalabbau. Die Umsetzung dieser geplanten unternehmerischen Entscheidung stelle in beiden Betrieben (U. und Y.) jeweils eine Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG dar. Die Arbeitgeberin forderte den Gesamtbetriebsrat auf, innerbetriebliche Verhandlungen zum Abschluss eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans aufzunehmen. Sie beantwortete über 100 Fragen.

Der Gesamtbetriebsrat lehnte Verhandlungen mangels ausreichender Tatsachengrundlage und fehlender Informationen ab. Trotz mehrfacher Nachfrage erklärte er sich nicht dazu bereit, eine Rückmeldung zum Arbeitgeberangebot abzugeben. Am Ende wurden die innerbetrieblichen Verhandlungen für gescheitert erklärt. Mit Antragschrift vom 1.8.2024 leitete die Arbeitgeberin beim Arbeitsgericht das vorliegende Verfahren auf Errichtung einer Einigungsstelle ein. Der Gesamtbetriebsrat machte geltend, es fehle das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für die Errichtung einer Einigungsstelle, denn die „Informationsphase“ nach § 111 Satz 1 BetrVG sei noch nicht abgeschlossen.

Das Arbeitsgericht hat den Anträgen der Arbeitgeberin stattgegeben. Das LAG hat die hiergegen gerichtete Beschwerde des Gesamtbetriebsrats zurückgewiesen.

Die Gründe:
Das nach § 100 ArbGG erforderliche Rechtsschutzinteresse lag vor. In Verfahren nach § 100 ArbGG kann das Rechtsschutzinteresse zwar fraglich sein, wenn die Betriebspartner in einer beteiligungspflichtigen Angelegenheit nicht gem. § 74 Abs. 1 Satz 2 BetrVG den Versuch unternommen haben, mit Einigungswillen zu verhandeln. Allerdings dürfen die Anforderungen in diesem Zusammenhang nicht überspannt werden.

Namentlich durch die verkürzten Fristen, die Alleinentscheidung des Vorsitzenden in beiden Instanzen und die begrenzte Zuständigkeitsprüfung (§ 100 Abs. 1 Satz 2 ArbGG) hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass bei Meinungsverschiedenheiten in einer beteiligungspflichtigen Angelegenheit möglichst rasch eine Einigungsstelle zur Verfügung stehen soll, um den Konflikt zu regeln. Der Verhandlungsanspruch muss vor Einleitung des Verfahrens nach § 100 ArbGG nicht objektiv erschöpft sein. Es reicht aus, wenn eine Betriebspartei nach ihrer nicht offensichtlich unbegründeten subjektiven Einschätzung aufgrund des bisherigen Verhaltens der Gegenseite die weiteren Erörterungen für aussichtslos hält. Das Rechtsschutzinteresse für die gerichtliche Bestellung entfällt nicht, wenn die Gegenseite erst während des Beschlussverfahrens überhaupt Verhandlungsbereitschaft signalisiert.

Gemessen an diesen Grundsätzen bestand im Streitfall das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis der Arbeitgeberinnen für die Errichtung einer Einigungsstelle. Das Arbeitsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass es zwischen den Beteiligten bereits vor der Vorlage eines ersten Entwurfs für einen Interessenausgleich und einen Sozialplan umfangreiche Informations- und Beratungsgespräche gegeben hatte. Die Arbeitgeberin hatte zahlreiche Fragen beantwortet und dem Gesamtbetriebsrat vorab Entwürfe übersandt. Wenn der Gesamtbetriebsrat - wie geschehen -  eine inhaltliche Auseinandersetzung und damit ein „Verhandeln“ ablehnte und auf fehlende weitere Informationen verwies, durfte die Arbeitgeberin davon ausgehen, dass er nicht beabsichtige, ernsthaft über das Thema Interessenausgleich und Sozialplan zu verhandeln, sondern das Verfahren in die Länge zu ziehen.

Der Gesamtbetriebsrat war hinsichtlich des Interessenausgleichs auch nicht offensichtlich unzuständig. Die Arbeitgeberin plant in den Betrieben U. und Y. Betriebsänderungen. Sie hat zahlreiche Beispiele genannt, dass eine standortübergreifende unternehmerische Planung vorliegt und es - aus ihrer Sicht - einer betriebsübergreifenden Regelung bedarf. Eine offensichtliche Unzuständigkeit des Gesamtbetriebsrats lag auch für den Abschluss eines Sozialplans nicht vor. Die Betriebspartner sind gehalten, beim Abschuss eines solchen sowohl die Interessen der von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer als auch die Belange des Unternehmens zu berücksichtigen. Dies kann bei einer betriebsübergreifenden Betriebsänderung nur unter Beachtung der Verhältnisse sämtlicher betroffener Betriebe und der Belange aller Arbeitnehmer geschehen.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 29.11.2024 16:03
Quelle: Landesrecht Rheinland-Pfalz

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