ArbG Erfurt v. 19.2.2024 - 6 BVGa 1/24
Kein allgemeiner Unterlassungsanspruch des Betriebsrates bei Betriebsänderungen
Es ist in der Rechtsprechung und der Literatur streitig, ob sich aus den § 111 ff. BetrVG bzw. aus §§ 935, 938 ZPO ein Anspruch des Betriebsrates auf Unterlassung von Betriebsänderungen bis zum Abschluss der vom Arbeitgeber geschuldeten Information und Beratung ergibt. Nach Auffassung der erkennenden Kammer besteht kein allgemeiner Unterlassungsanspruch des Betriebsrates bei Betriebsänderungen.
Der Sachverhalt:
Der Beteiligte zu 1) ist der Betriebsrat der Beteiligten zu 2). Diese beschäftigt 212 Arbeitnehmer. Sie fertigt Etiketten für verschiedene Firmen, im Wesentlich in den Bereichen Home & Beauty. Sie ist Teil der A Group. Die Muttergesellschaft ist die A-GmbH. Insgesamt bilden ca. 29 Firmen in mehreren europäischen Ländern diesen Konzern mit einem Umsatzvolumen von mehr als 1 Mrd. € jährlich. Der Betrieb der Beteiligten zu 2) beliefert vor allem internationale Großkunden.
Am 14.12.2023 wurde der Beteiligte zu 1) gem. §§ 92, 106, 111 BetrVG, § 178 SGB 9 über die Planung einer Betriebsänderung schriftlich über die Absicht der Stilllegung des Betriebes der Beteiligten zu 2) im Laufe des 3. Quartals 2024 informiert. In dem Schreiben wurde erläutert, dass zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit und damit auch der Sicherung der Zukunft der A Group insgesamt die Schließung des Standortes der Beteiligten zu 2) zwingend notwendig und alternativlos sei. Eine 60%ige Auslastung der Standorte in Europa, ein absehbarer Umsatzrückgang in 2024, der Preisdruck im Home Care-Markt sowie die Bevorzugung lokaler Belieferung wurden u. a. als Gründe für die beabsichtigte Schließung benannt. Das Schreiben enthielt zudem eine Liste mit geplanten Maßnahmen, den Entwurf eines Interessenausgleichs, den Entwurf eines Sozialplanes sowie den Entwurf einer Vereinbarung über eine Einigungsstelle, falls es nicht bis spätestens zum 29.2.2024 gelingen sollte, sich auf einen Sozialplan zu verständigen.
Der Beteiligte zu 1) war der Ansicht, ihm stehe ein Verfügungsanspruch auf Unterlassung der betriebsinternen Maßnahmen zu. Die Beteiligte zu 2) versuche dadurch bereits vollendete Tatsachen zu schaffen, die einer Einflussnahme des Beteiligten zu 1) auf zukünftige Maßnahmen verhindere. Die Beteiligte zu 2) nehme damit dem Beteiligten zu 1) die Möglichkeit, durch eigene Vorschläge, wie z. B. die Fortführung der Produktion mit einem Teil der Belegschaft, auf die Betriebsänderung Einfluss zu nehmen. Der Beteiligte zu 1) machte wegen der beabsichtigten Betriebsschließung einen Unterlassungsanspruch im Wege der einstweiligen Verfügung geltend.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag zurückgewiesen.
Die Gründe:
Der Antrag auf einstweilige Verfügung war unbegründet, da es bereits an einem Verfügungsanspruch fehlte.
Es ist in der Rechtsprechung und der Literatur streitig, ob sich aus den § 111 ff. BetrVG bzw. aus §§ 935, 938 ZPO ein Anspruch des Betriebsrates auf Unterlassung von Betriebsänderungen bis zum Abschluss der vom Arbeitgeber geschuldeten Information und Beratung ergibt. Nach Auffassung der erkennenden Kammer besteht kein allgemeiner Unterlassungsanspruch des Betriebsrates bei Betriebsänderungen. Gegen einen solchen Anspruch aus § 111 BetrVG spricht bereits der Gesetzeswortlaut, der lediglich einen Unterrichtungs- und Beratungsanpruch des Betriebsrates vorsieht. Insoweit wird auf die überzeugenden Argumente des LAG Rheinland-Pfalz v. 24.11.2004 - 9 TaBV 29/09 - Rn. 37 ff. Bezug genommen. In der BAG-Entscheidung v. 3.5.1994 - 1 ABR 24/93 wurde ein Unterlassungsanspruch zwar im Wesentlichen deshalb bejaht, weil § 87 BetrVG die erzwingbare Mitbestimmung regelt und der Gesetzgeber einen betriebsverfassungswidrigen Zustand in diesem Bereich nicht dulden wollte. Eine vergleichbare Situation ist aber im Bereich des § 111 BetrVG nicht gegeben. Auch die Umstände der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 sprechen gegen einen allgemeinen Unterlassungsanspruch des Betriebsrates im Bereich der §§ 111 ff BetrVG.
Selbst für den Fall der Annahme eines allgemeinen Unterlassungsanspruchs hatte der Beteiligte zu 1) vorliegend nicht ausreichend glaubhaft gemacht, dass die aufgeführten Maßnahmen bereits eine Umsetzung der beabsichtigten Schließung darstellen. Der Unternehmer beginnt mit der Durchführung einer Betriebsänderung, wenn er unumkehrbare Maßnahmen ergreift und damit vollendete Tatsachen schafft. Eine Betriebsänderung in der Form der Stilllegung besteht in der Aufgabe des Betriebszwecks unter gleichzeitiger Auflösung der Betriebsorganisation für unbestimmte, nicht nur für vorübergehende Zeit. Ihre Umsetzung erfolgt sobald der Unternehmer unumkehrbare Maßnahmen zur Auflösung der betrieblichen Organisation ergreift. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn er die bestehenden Arbeitsverhältnisse zum Zwecke der Betriebsstilllegung kündigt.
Die hier aufgeführten Maßnahmen waren allerdings nicht unumkehrbar bzw. von der Beteiligten zu 2) nicht beeinflussbar. Sie hatten keine Auflösung der Betriebsorganisation zur Folge. Auch bereits abgeschlossene Aufhebungsverträge stellten noch keine Umsetzung der Betriebsänderung dar. Denn es steht jedem Arbeitnehmer frei, sich an den Arbeitgeber zu wenden und um Aufhebung des Arbeitsvertrages im Hinblick auf die beabsichtigte Betriebsschließung zu bitten.
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