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Entgeltdiskriminierung und Vertragsfreiheit - Zugleich Besprechung der BAG-Entscheidung v. 16.2.2023 - 8 AZR 450/21 (Hartmann, ZFA 2024, 4)

Nach einer aktuellen BAG-Entscheidung kann im Rahmen von Entgeltdiskriminierungsklagen die Vermutung des § 22 AGG nicht allein unter Hinweis auf die privatautonome Vereinbarung eines höheren Lohns mit einer Vergleichsperson des anderen Geschlechts widerlegt werden. Der Autor setzt sich kritisch mit dem Urteil auseinander und ordnet es in die Entwicklung des Entgeltgleichheitsrechts ein.

I. Einführung: gender pay gap und Entgeltdiskriminierung
II. Sachverhalt der BAG-Entscheidung vom 16.2.2023
III. Entgeltdifferenzanspruch und § 22 AGG
IV. Begründung der Kausalitätsvermutung als Tatbestandsvoraussetzung des § 22 AGG

1. Rückgriff auf die Rechtsprechung des EuGH
2. Fehlende unionsrechtliche Grundlage für einen „Beweislastautomatismus“
3. Fragwürdige Kausalitätsvermutung zwischen gender pay gap und Entgeltdiskriminierungen
V. Anforderungen an den Gegenbeweis der Arbeitgeberin
1. Allgemeine Anforderungen an die „Widerlegung“ der Vermutung gem. § 22 AGG
2. Zusätzliche Anforderungen an die „Widerlegung“ der Vermutung in der Rechtsprechung zu Entgeltdiskriminierungen
a) Erfordernis „objektiver Faktoren“ und Verhältnismäßigkeitskontrolle
b) Umwertung des Diskriminierungsverbots zu einem Gleichbehandlungsgebot
c) Zusätzliche Anforderungen als Ausprägung einer entgeltgleichheitsrechtlichen Sonderdogmatik
3. Analyse der konkreten Verhandlungssituation
a) Verhandlungsinitiative des begünstigten Arbeitnehmers
b) Personalgewinnung und Arbeitsmarktlage
c) Verhandlungsgegenstände jenseits des Grundentgelts
VI. Praxisfolgen der Entscheidung
VII. Ausblick auf die weitere Entwicklung
VIII. Zusammenfassung


I. Einführung: gender pay gap und Entgeltdiskriminierung

Über die Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern wird in der deutschen Rechtswissenschaft seit mehr als sieben Jahrzehnten diskutiert. Auf Gemeinschaftsebene war der entsprechende Grundsatz bereits seit den Römischen Verträgen im Primärrecht verankert, wenn auch mit ursprünglich marktfunktionaler Stoßrichtung. Es ist fraglos ein Missstand, wenn der gender pay gap heute noch immer nicht vollständig geschlossen ist. Über Ausmaß und Ursachen des Problems besteht allerdings wenig Klarheit. Für die Entgeltdiskriminierung orientiert man sich an der sog. bereinigten Entgeltlücke, die das Statistische Bundesamt für das Jahr 2022 mit 7 % angibt. Diese Kennzahl ist Ausdruck des Versuchs, aus der sog. unbereinigten Entgeltlücke von 18 % strukturelle Ursachen wie etwa die Ausübung unterschiedlich bezahlter Tätigkeiten und verschiedene Karriere- und Ausbildungslevel „herauszurechnen“. Das Statistische Bundesamt gesteht aber zu, dass die Unterschiede noch geringer ausfallen würden, „wenn weitere Informationen über lohnrelevante Einflussfaktoren für die Analyse zur Verfügung stünden, etwa Angaben zu Erwerbsunterbrechungen aufgrund von Schwangerschaft, Geburt von Kindern oder Pflege von Angehörigen“. Unabhängig davon ist anerkannt, dass die bereinigte Entgeltlücke „nicht automatisch mit Entgeltdiskriminierung in dieser Höhe gleichgesetzt werden“ kann. Bislang hat sich nicht feststellen lassen, zu welchen Anteilen der verbleibende gender pay gap auf diskriminierendem Arbeitgeberverhalten beruht.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht selbstverständlich, dass die Entscheidung des Achten Senats vom 16.2.2023 teils geradezu euphorische Reaktionen hervorruft. Das Urteil sei „ein Meilenstein auf dem Weg zur gleichen Bezahlung von Frauen und Männern“. Seine zentrale Aussage lautet wie folgt: „Der Umstand, dass sich Arbeitsvertragsparteien im Rahmen ihrer Vertragsfreiheit auf ein höheres Entgelt verständigen als der Arbeitgeber mit einem Mitarbeiter/einer Mitarbeiterin des anderen Geschlechts mit gleicher oder gleichwertiger Arbeit vereinbart, ist für sich allein betrachtet nicht geeignet, die Vermutung einer geschlechtsbezogenen Entgeltbenachteiligung zu widerlegen.“ Stark vergröbernd fasst eine befürwortende Stimme den Ertrag des Urteils wie folgt zusammen: „Das Argument, Männer verhandelten nun mal besser, also müssten sich Frauen nur mal mehr bei der Verhandlung anstrengen, reicht nun zum Glück nicht mehr aus.“ Kritischere Stellungnahmen gehen ebenfalls davon aus, dass sich die Gewichte zu Lasten der Vertragsfreiheit verschoben hätten.

Aus praktischer Sicht stellt sich die Frage, ob und wie Arbeitgeber ungeachtet der Judikatur des Achten Senats künftig noch in rechtssicherer Weise individuelle Entgeltdifferenzierungen vornehmen können. Der folgende Beitrag will das Urteil vom 16.2.2023 aber vor allem auf seine Vereinbarkeit mit antidiskriminierungsrechtlichen Grundsätzen untersuchen. Weiterhin gilt es, die weitere Rechtsentwicklung zu beleuchten, stehen doch mit der jüngst beschlossenen Entgelttransparenzrichtlinie in absehbarer Zeit erneut Änderungen ins Haus.

II. Sachverhalt der BAG-Entscheidung vom 16.2.2023
Der Fall, der Anlass zu dem Urteil des Achten Senats gegeben hat, ist in seinem Kern als „geradezu lehrbuchmäßige Konstellation“ bezeichnet worden. Reduziert man den recht komplexen Sachverhalt auf die für § 22 AGG relevanten Elemente, ergibt sich in der Tat ein Fall, der auch zu Ausbildungszwecken geeignet wäre: Die Klägerin war bei der Beklagten als Außendienstmitarbeiterin im Vertrieb tätig. Die Beklagte hatte ihr ein Bruttomonatsgehalt von 3.500 € und für die Zeit nach Ablauf der ersten acht Monate zusätzlich eine umsatzabhängige Provision angeboten. Damit war die Klägerin grundsätzlich einverstanden, verlangte aber darüber hinaus erfolgreich eine unbezahlte Freistellung im jährlichen Umfang von 20 Tagen. Zwei Monate vor Eintritt der Klägerin in den Betrieb hatte die Beklagte den P ebenfalls für den Vertriebsaußendienst eingestellt. Die Beklagte und P hatten die gleichen Aufgaben und Befugnisse und konnten sich im Krankheitsfall ohne besondere Einarbeitung gegenseitig vertreten. Dem P hatte die Beklagte das gleiche Grundgehalt und die gleiche Provisionsregelung angeboten. Allerdings sollten die umsatzabhängigen Provisionszahlungen erst zehn Monate nach Arbeitsbeginn einsetzen. Es war absehbar, dass zu diesem Zeitpunkt die langjährige Vertriebsmitarbeiterin U ausscheiden würde. In deren Stellung sollte P bei Bewährung perspektivisch einrücken. P verlangte für die Zeit, in der er noch keine Provisionen verdienen würde, ein um 1.000 € erhöhtes Bruttomonatsentgelt. Darauf ließ sich die Beklagte ein. Im Zuge der Gespräche über die Nachfolge in die Position der U einigten sich die Beklagte und P nach anderthalb Jahren auf ein dauerhaft höheres Grundentgelt von 4.000 €. Mit der Klägerin wurden keine vergleichbaren Absprachen getroffen.

III. Entgeltdifferenzanspruch und § 22 AGG
Das Recht der Entgeltdiskriminierung ist zersplittert und unübersichtlich. In der Entscheidung vom 16.2.2023 stützt das BAG den Anspruch der Klägerin ab Inkrafttreten des EntgTranspG auf dessen § 3 Abs. 1 und § 7, für den vorherigen Zeitraum auf Art. 157 AEUV. Unerwähnt lässt der Achte Senat einen etwaigen Entgeltdifferenzanspruch aus § 2 Abs. 1 Nr. 2, § 7, § 8 Abs. 2 AGG, 17 obwohl insoweit die Anwendung des § 22 AGG vergleichsweise unproblematisch erschiene.

Zumindest begründungsbedürftig erscheint die Heranziehung der Beweislastregel hingegen bei einem auf § 3 Abs. 1 und § 7 EntgTranspG gestützten Anspruch. Dass das AGG nach § 2 Abs. 1 S. 1 EntgTranspG unberührt bleibt, besagt noch nichts über die Einschlägigkeit der Beweislastregelung für Ansprüche aus dem EntgTranspG. Praktische Bedeutung erlangt diese Frage aber wohl nicht. Art. 19 Abs. 1, Abs. 4 lit. a RL 2006/54/EG stellt für die Entgeltdiskriminierung die gleichen Anforderungen an die Beweislastregelung wie die anderen Antidiskriminierungsrichtlinien, die in Deutschland insoweit durch § 22 AGG umgesetzt worden sind. Sollte der Anspruch aus § 2 Abs. 1 Nr. 2, § 7, § 8 Abs. 2 AGG verdrängt sein, müsste § 22 AGG jedenfalls im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung auf Entgeltdiskriminierungsklagen nach dem EntgTranspG ausgedehnt werden.

Die Merkmalsbezogenheit der Ansprüche wegen Entgeltdiskriminierung ist ohnehin nicht zu bestreiten. Deren erfolgreiche Geltendmachung würde an sich den schwierigen Nachweis der Kausalität zwischen dem Geschlecht und der Benachteiligung voraussetzen. Der in Art. 19 Abs. 1, Abs. 4 lit. a RL 2006/54/EG und § 22 AGG enthaltene Grundgedanke, wonach die wirksame Durchsetzung merkmalsbezogener Antidiskriminierungsansprüche eine partielle Verlagerung der Beweislast erfordert, ist deshalb einschlägig.

IV. Begründung der Kausalitätsvermutung als Tatbestandsvoraussetzung des § 22 AGG
Auf die Voraussetzungen des § 22 AGG verwendet das Urteil vom 16.2.2023 nur wenige Worte. Unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des EuGH hält es der Achte Senat für ausreichend, dass die Klägerin einen männlichen Kollegen benennen konnte, der für gleiche Arbeit einen höheren Lohn erhielt. Dies genüge jedenfalls in der Konstellation, dass überhaupt nur zwei Kollegen als Vergleichspersonen in Betracht kommen. Selbstverständlich erscheint diese Annahme nicht. Zwar setzt § 22 AGG entgegen dem missverständlichen Wortlaut anerkanntermaßen nicht voraus, dass...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 06.02.2024 16:28
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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