Otto Schmidt Verlag

BAG v. 1.2.2024 – 2 AS 22/23 (A)

Ändert das BAG seine Rechtsprechung zu den Rechtsfolgen von Fehlern im Anzeigeverfahren bei Massenentlassung? Zweiter Senat ruft EuGH an

Der Sechste Senat des BAG hatte am 14.12.2023 angefragt, ob der Zweite Senat des BAG an seiner Rechtsauffassung festhält, dass eine im Rahmen einer Massenentlassung erklärte Kündigung nichtig ist, wenn im Zeitpunkt ihres Zugangs keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1 und Abs. 3 KSchG vorliegt. Der Zweite Senat des BAG hat nun das Anfrageverfahren ausgesetzt und den EuGH um die erforderliche Beantwortung von Fragen zur Auslegung der den §§ 17 ff. KSchG zugrundeliegenden Richtlinie 98/59/EG zur Angleichung von Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen ersucht.

Der Zweite Senat des BAG hat das Anfrageverfahren ausgesetzt und den EuGH gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:

1. Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist?

Sofern die erste Frage bejaht wird:

2. Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügen?

3. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?

Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden:

4. Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?
 

Hintergrund:

Der Sechste Senat des BAG beabsichtigt, seine Rechtsprechung, dass eine Kündigung als Rechtsgeschäft gegen ein gesetzliches Verbot iSd. § 134 BGB verstößt und die Kündigung deshalb unwirksam ist, wenn bei ihrer Erklärung keine wirksame Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt, aufzugeben. Die hierin liegende entscheidungserhebliche Abweichung zur Rechtsprechung des Zweiten Senats des BAG seit dessen Urteil vom 22.11.2012 (2 AZR 371/11) erforderte die Anfrage nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG, ob dieser an seiner Rechtsauffassung festhält.

Im zugrundeliegenden Fall streiten die Parteien noch darüber, ob eine betriebsbedingte Kündigung nichtig ist, weil der Beklagte die erforderliche Massenentlassungsanzeige nicht erstattet hat.

Der Kläger war seit 1994 bei der V Handelsgesellschaft mbH (im Folgenden Schuldnerin) tätig, bei der kein Betriebsrat gebildet war. Über das Vermögen der Schuldnerin wurde am 1.12.2020 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Zwischen dem 12.11.2020 und dem 29.12.2020 beendete dieser durch Kündigungen oder den Abschluss von Aufhebungsverträgen sämtliche im Oktober 2020 noch bestehenden 22 Arbeitsverhältnisse der Schuldnerin. Das Arbeitsverhältnis des Klägers kündigte der Beklagte mit einem am 8.12.2020 zugegangenen Schreiben vom 2.12.2020 zum 31.3.2021. Im 30-Tage-Zeitraum hatte er dabei mehr als fünf Arbeitnehmer entlassen. Eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG hatte er zuvor nicht erstattet. Das Arbeitsverhältnis des Klägers ist aufgrund einer späteren Kündigung zum 31.7.2021 beendet worden.

Mit seiner fristgerecht erhobenen Kündigungsschutzklage macht der Kläger geltend, die Kündigung vom 2.12.2020 sei nichtig, weil es an der zuvor erforderlichen Massenentlassungsanzeige durch den Beklagten fehle.

Der Beklagte hat, wie der Sechste Senat bereits festgestellt hat, gegen seine aus § 17 Abs. 1 KSchG folgende Verpflichtung verstoßen, eine Massenentlassungsanzeige zu erstatten. Nach Auffassung des Sechsten Senats ist die Sanktion für diesen Fehler ebenso wie für alle anderen denkbaren Fehler des Arbeitgebers im Anzeigeverfahren nicht die Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB. Die für derartige Fehler gebotene Sanktion muss vielmehr vom Gesetzgeber bestimmt werden. Der Senat sieht sich an einer solchen Entscheidung jedoch durch die Entscheidung des Zweiten Senats des BAG zur Nichtigkeitsfolge von Fehlern im Anzeigeverfahren (BAG v. 22.11.2012 - 2 AZR 371/11) gehindert.

An den Zweiten Senat des BAG wurde deshalb mit Beschluss vom 14.12.2023 gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG folgende Anfrage gerichtet:

Wird an der seit dem Urteil vom 22.11.2012 (2 AZR 371/11) vertretenen Rechtsauffassung festgehalten, dass eine Kündigung als Rechtsgeschäft gegen ein gesetzliches Verbot iSd. § 134 BGB verstößt und die Kündigung deshalb unwirksam ist, wenn bei ihrer Erklärung keine wirksame Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt?

Der Zweite Senat hat daraufhin wie oben beschrieben den EuGH angerufen.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Massenentlassung: Sanktion für Fehler im Anzeigeverfahren
BAG vom 14.12.2023 - 6 AZR 157/22 (B)

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 05.02.2024 16:09
Quelle: BAG PM Nr. 4 vom 1.2.2024

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