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Die Tariffähigkeit der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer nach Gründung der Fair Train e.G. - Ein Beitrag zum Erfordernis der Unabhängigkeit von Koalitionen (Höpfner, ZFA 2023, S6)

Im Bereich des schienengebundenen Transport- und Verkehrswesens werden seit vielen Jahren heftige Tarifkonflikte ausgetragen. Besonders konfliktgeneigt zeigt sich dabei die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die sich gegenüber der wesentlich größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) behaupten will. Die Auseinandersetzungen sind nun um eine Wendung reicher, nachdem führende Mitglieder der GDL im Jahr 2023 mit der Fair Train e.G. eine eigene Genossenschaft gegründet haben. Das Ziel dieses Manövers ist es, Lokführer zum Wechsel von der Deutschen Bahn zur Fair Train zu bewegen, um diese anschließend im Wege der Arbeitnehmerüberlassung an die Bahnunternehmen zurück zu verleihen. Die Fair Train tritt damit unmittelbar als Wettbewerberin der Deutschen Bahn auf einem von Fachkräftemangel geprägten Arbeitsmarkt auf.

Bereits unmittelbar nach Bekanntwerden der Pläne wurden erste Stimmen laut, die Lokführergewerkschaft setze damit ihre eigene Tariffähigkeit aufs Spiel (vgl. Werner in LTO v. 6.6.2023, abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/gdl-gewerkschaft-bahn-lokfuehrer-weselsky-gruendet-eigene-genossenschaft-fair-trans-leiharbeit; von Saenger in FAZ v. 13.12.2023, S. 16). Die Kassandrarufe blieben ungehört, das Vorhaben wurde in die Tat umgesetzt. Beim LAG Hessen ist nun ein Beschlussverfahren nach § 97 ArbGG anhängig, in dem festzustellen ist, ob die GDL noch tariffähig ist oder nicht (Az. 5 BVL 1/2024). Damit eine Koalition die Interessen ihrer Mitglieder in Tarifverhandlungen wirksam vertreten kann, muss sie unabhängig von ihrem sozialen Gegenspieler und von Dritten sein. Ob und unter welchen Voraussetzungen die Anforderungen dieses Unabhängigkeitspostulats durch Verflechtungen zwischen einer Gewerkschaft und einem privatwirtschaftlichen Unternehmen verletzt sein können, ist Gegenstand dieses Beitrags.

I. Sachverhalt
II. Automatische Tarifunfähigkeit der GDL aufgrund fehlender Gegnerunabhängigkeit infolge der Gründung der Fair Train

1. Gegnerunabhängigkeit der GDL
a) Begriffsklärung: Gegnerfreiheit, Gegnerreinheit, Gegnerunabhängigkeit
aa) Gegnerfreiheit
bb) Gegnerreinheit
cc) Gegnerunabhängigkeit
b) Personelle Gegnerunabhängigkeit der GDL
aa) Anforderungen an die personelle Gegnerunabhängigkeit
(1) Relativität der Gegnerreinheit
(2) Materielles Verständnis der Gegnerunabhängigkeit
(a) Repräsentanten der Arbeitgeberseite
(b) Einflussmöglichkeit in der Arbeitnehmervereinigung
(3) Prüfprogramm
bb) Personelle Verflechtungen zwischen GDL und Fair Train
(1) Genossenschaftsmitglieder als Mitglieder der GDL
(2) Genossenschaftsmitglied als Leiter der Tarifabteilung
(3) Genossenschaftsmitglieder in den Organen der GDL
cc) Zwischenergebnis
c) Organisatorische Gegnerunabhängigkeit der GDL
aa) Anforderungen an die organisatorische Gegnerunabhängigkeit
bb) Organisatorische Verflechtungen zwischen GDL und Fair Train
(1) Aufsichtsratsmitglieder der Fair Train als Mitglieder des geschäftsführenden Vorstands der GDL
(2) Finanzielle Anreize zum GDL-Beitritt
(3) Indienstnahme der Fair Train zur Mitgliederwerbung der GDL
(4) Vorrangstellung der GDL in der Satzung der Fair Train
(5) Einflussmöglichkeit der Fair Train durch organisatorische Verflechtung
d) Zwischenergebnis
2. Auswirkungen auf die Tariffähigkeit der GDL gegenüber Dritten
a) Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der Tariffähigkeit
b) Kein zwingender Widerspruch zur Relativität der Gegnerunabhängigkeit
c) Keine Beschränkung der Einheitlichkeit der Tariffähigkeit in der Rechtsprechung des BAG
d) Erga-omnes-Wirkung des Beschlusses über die Tariffähigkeit einer Vereinigung (§ 97 Abs. 3 ArbGG)
3. Ergebnis zu II.
III. Verlust der Tariffähigkeit der GDL im Verhältnis zum AGV MOVE infolge der Gründung der Fair Train
1. Unabhängigkeit der GDL vom Einfluss Dritter
a) Das allgemeine Unabhängigkeitspostulat
b) Anforderungen an die Unabhängigkeit der Arbeitnehmervereinigung von Dritten
aa) Keine Beschränkung auf „staatsnahe“ Akteure
bb) Materielles Verständnis des Unabhängigkeitspostulats
cc) Auswirkungen der Drittinteressen im konkreten Tarifverhältnis
dd) Prüfprogramm
c) Fehlende Unabhängigkeit der GDL infolge der Gründung der Fair Train
aa) Einfluss der Fair Train auf die Willensbildung der GDL
bb) Eigene Interessen der Fair Train bei Tarifverhandlungen zwischen GDL und AGV MOVE und Interessenkonflikt der GDL
(1) Interesse der Fair Train am Wechsel der bei den Mitgliedsunternehmen des AGV MOVE angestellten Arbeitnehmer zur Fair Train
(2) Interessenkonflikt im Hinblick auf § 4a TVG: Angriff auf die Geltung des eigenen Mehrheitstarifvertrags
(3) Auswirkungen des Interessenkonflikts auf die Tarifverhandlungen mit dem AGV MOVE
(aa) Tarifregelungen zur Arbeit in Arbeitszyklen
(bb) Tarifforderung nach Verkürzung der Kündigungsfrist für Eigenkündigungen bei den Unternehmen der Deutschen Bahn
(4) Zwischenergebnis
2. Konsequenzen für die Tariffähigkeit gegenüber dem AGV MOVE
3. Ergebnis zu III.
IV. Zusammenfassung


I. Sachverhalt

Führende Mitglieder der GDL haben am 6.1.2023 die Fair Train e.G. mit Sitz in Berlin gegründet. Am 5.6.2023 hat die GDL durch ihren Bundesvorsitzenden Claus Weselsky die Gründung der Genossenschaft in einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit vorgestellt.

Die Fair Train verfolgt entsprechend § 2 Abs. 3 ihrer Satzung (FT-Satzung) den Zweck, Lokführer im Wege der Arbeitnehmerüberlassung an Eisenbahnverkehrsunternehmen zu überlassen. Dafür wurde ihr im September 2023 von der Agentur für Arbeit in Kiel eine (befristete) Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung erteilt.

Die Vergütung der Arbeitnehmer soll auf Basis von Tarifverträgen zwischen der Fair Train und der GDL erfolgen. Ein entsprechender „Haustarifvertrag Fair Train e.G.“ (HausTV FT) sowie ein „Tarifvertrag über die gemeinsame Einrichtung der Eisenbahnverkehrsunternehmen zur Gewährung von Sozialleistungen“ (GE-TV FT) wurden jeweils am 13.9.2023 mit Wirkung zum 1.12.2023 (HausTV FT) bzw. 1.1.2024 (GE-TV FT) zwischen Fair Train und GDL abgeschlossen.

Die Gründungsmitglieder der Fair Train bestehen aus dem aktuellen geschäftsführenden Vorstand der GDL, namentlich Claus Weselsky (Vorsitzender), Mario Reiß , Lutz Schreiber und Lars Jedinat, sowie den Herren Thomas Gelling (Leiter Tarifabteilung der GDL), Günther Kinscher (ehemaliger stellvertretender Bundesvorsitzender der GDL) und Thomas Schütze (GDL-Mitglied, vormals Bundesgeschäftsführer der GDL). Die Herren Reiß , Schreiber und Jedinat bilden zugleich laut Gründungsbeschluss den Aufsichtsrat der Fair Train. Herr Schütze bekleidet gemeinsam mit Herrn Peter Bosse das Amt des Vorstands.

Die Satzung der Fair Train regelt in § 3 Ziff. 2, dass nur Gewerkschaftsmitglieder der GDL ordentliche Mitglieder der Genossenschaft werden können und dass diese bei Beendigung der Mitgliedschaft in der GDL zum Schluss eines Geschäftsjahres gem. § 9 Ziff. 1 e) FT-Satzung aus der Genossenschaft ausgeschlossen werden können. Der Geschäftsanteil beträgt 500 € (§ 4 Ziff. 1 FT-Satzung); die Kündigungsfrist der Mitgliedschaft beträgt gem. § 6 FT-Satzung zwei Jahre zum Schluss des Geschäftsjahres.

Die Genossenschaftsmitglieder haben die Interessen der Genossenschaft zu fördern; dies umfasst insbesondere das Satzungsziel des Abschlusses von Tarifverträgen mit der GDL (vgl. § 5 Ziff. 2 b) i.V.m. § 2 Ziff. 3 S. 2 FT-Satzung). Gemäß § 11 Ziff. 2 FT-Satzung hat jedes ordentliche Mitglied bei der Beschlussfassung in der Generalversammlung eine Stimme. Eine Ausnahme gilt für die Gründungsmitglieder, die jeweils insgesamt drei Stimmen haben (Mehrstimmrecht). Vorstand und Aufsichtsrat beschließen gem. § 30 Ziff. 4 FT-Satzung die Grundsätze der Geschäftspolitik der Fair Train nach gemeinsamer Beratung und durch getrennte Abstimmung. Die Vorstandsmitglieder werden gem. § 32 Ziff. 2 FT-Satzung vom Aufsichtsrat bestellt, angestellt und abberufen.

Der HausTV FT zwischen der Fair Train und der GDL sieht in § 59 Abs. 4 insbesondere vor, dass unverzüglich zu verhandeln ist, wenn eine Tarifvertragspartei dies wünscht, und die Tarifvertragsparteien die Verhandlungen mit der ernsten Absicht zu führen haben, eine Einigung zu den Verhandlungsthemen zu erzielen. Überdies sehen die §§ 8 Abs. 2, 32 Abs. 1 HausTV FT ausdrücklich die sog. Arbeit in Arbeitszyklen vor. Bei der Arbeit in Arbeitszyklen kehrt der Arbeitnehmer – anders als beim Einsatz nach dem sog. Standort-Prinzip – nach Beendigung seiner täglichen Arbeitszeit nicht zu einer festen Einsatzstelle zurück. Stattdessen folgt auf jeden Arbeitszyklus ein Ruhezyklus am Wohnort des Arbeitnehmers. Ein Arbeitszyklus ist der Zeitraum der beruflich bedingten Abwesenheitszeit vom Wohnort zwischen zwei Ruhezyklen. Die Arbeit in Arbeitszyklen ermöglicht den Arbeitsvertragsparteien eine Flexibilisierung und erhöhte Produktivität, da der Arbeitnehmer innerhalb eines Arbeitszyklus auf Strecken eingesetzt werden kann, die...



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 23.01.2024 15:54
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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