Otto Schmidt Verlag

ArbG Stuttgart v. 12.12.2023 - 25 Ca 749/23

Aktive Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs für Verbandssyndikusrechtsanwälte

Die Verbandssyndikusrechtsanwälte einer Gewerkschaft unterliegen auch dann der aktiven Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs, wenn sie lediglich als "Rechtssekretäre" bzw. "Gewerkschaftssekretäre" auftreten. Der Rechtsirrtum eines (Verbandssyndikus)Rechtsanwalts ist regelmäßig nicht unverschuldet. Wenn die Rechtslage zweifelhaft ist, muss der bevollmächtigte Anwalt bis zur höchstrichterlichen Klärung den sicheren Weg wählen. Dies gilt besonders bei fristgebundenen Schriftsätzen.

Der Sachverhalt:
Der Kläger war von 2017 bis Ende 2022 bei der Beklagten als Logistiker tätig. Das Arbeitsverhältnis war mehrmals befristetworden, zuletzt mit Vereinbarung vom 21.12.2021 zum 31.12.2022. Der Kläger ist Mitglied der IG-Metall. Die Beklagte stellt Kraftfahrzeuge her. Nachdem die Beklagte eine weitere Verlängerung des Arbeitsverhältnisses abgelehnt hatte, erhob der Kläger, vertreten durch die IG-Metall, mit Schreiben vom 19.1.2023 Befristungskontrollklage. Die Klage ging am 19.1.2023, um 14:31 Uhr vorab per Fax ohne Anlagen und am 20.1.2023 im Original mit Anlagen ein. Die Klageschrift war von Frau S. unter Beifügung der Bezeichnung „Rechtssekretärin“ handschriftlich unterschrieben. Frau S. ist als Verbandssyndikusrechtsanwältin bei der IG-Metall zugelassen.

Die Klageschrift nebst Anlagen wurde auf der Eingangsgeschäftsstelle des Arbeitsgerichts eingescannt und am 24.1.2023, der damaligen Vorsitzenden in der elektronischen Akte vorgelegt. Am selben Tag erfolgte die PEBB§Y-Produkterfassung durch die Vorsitzende sowie die Bestimmung des Termins zur Güteverhandlung. Nach mehrmaligem Wechsel der Vorsitzenden wies der neue Vorsitzende mit Verfügung vom 13.11.2023 darauf hin, dass angesichts der Zulassung von Frau S. als Verbandssyndikusrechtsanwältin bei der IG-Metall die papierhafte Klageeinreichung nach BAG-Rechtsprechung (Beschl. v. 23.5.2023 – 10 AZB 18/22) wegen § 46g ArbGG wohl unwirksam sei.

Der Kläger beantragte hilfsweise „die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 233 ZPO. Er war der Ansicht, die Befristung sei unwirksam. Insbesondere greife die Fiktion gem. § 17 Satz 2 TzBfG iVm. § 7 KSchG nicht. Die vom BAG getroffene Rechtseinschätzung könne nicht pauschalisiert für alle Verbandsvertreter und in jedem Fall gelten.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen.

Die Gründe:
Die Befristung gilt nach § 17 Satz 2 TzBfG i.V.m. § 7 KSchG wegen Versäumung der dreiwöchigen Klagefrist als wirksam. Eine nachträgliche Zulassung der Klage war nicht zu gewähren.

Sofern eine aktive Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs gemäß § 46g ArbGG (i.V.m. § 253 Abs. 4 ZPO) besteht, kann eine per Post oder Fax eingegangene Klageschrift - abgesehen von den Fällen der zulässigen Ersatzeinreichung gem. § 46g Satz 3 ArbGG - die Dreiwochenfrist aus § 17 Satz 1 TzBfG bzw. § 4 Satz 1 KSchG nicht wahren. Die zwingende Einreichung von Erklärungen in der elektronischen Form nach § 46g ArbGG betrifft die Frage ihrer Zulässigkeit und ist von Amts wegen zu prüfen. Die Verbandssyndikusrechtsanwälte einer Gewerkschaft unterliegen auch dann der aktiven Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs, wenn sie lediglich als "Rechtssekretäre" bzw. "Gewerkschaftssekretäre" auftreten.

Der Rechtsirrtum eines (Verbandssyndikus)Rechtsanwalts ist regelmäßig nicht unverschuldet. Wenn die Rechtslage zweifelhaft ist, muss der bevollmächtigte Anwalt bis zur höchstrichterlichen Klärung den sicheren Weg wählen. Dies gilt besonders bei fristgebundenen Schriftsätzen. Die papierhafte Einreichung einer Befristungskontrollklage durch einen Verbandssyndikusrechtsanwalt nach dem 1.1.2022 ist insofern verschuldet. Es gibt keinen Rechtssatz dergestalt, dass das Vertrauen auf die Gefolgschaft der Instanzgerichte betreffend eine in der Literatur geäußerten Rechtsansicht "ihres" Präsidenten des LAG ein Verschulden im jeweiligen Gerichtsbezirk ausschließen könnte.

Das allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren kann zwar eine gerichtliche Hinweispflicht im ordnungsgemäßen Geschäftsgang auslösen, wenn ein fristgebundener Schriftsatz nicht in der vorgesehenen Form übermittelt worden ist. Hieraus folgt indes keine Pflicht zur unverzüglichen Prüfung einer (nicht offen gelegten) Rechtsanwaltszulassung unter Nutzung des allgemein zugänglichen bundesweiten Anwaltsverzeichnisses. Selbst bei offen gelegter Rechtsanwaltszulassung besteht jedenfalls keine Pflicht zur sofortigen Hinweiserteilung, weil wegen der Möglichkeit einer zulässigen Ersatzeinreichung im Zeitpunkt der papierhaften Klageeinreichung noch nicht einmal sicher feststeht, ob der eingegangene Schriftsatz überhaupt unter Verstoß gegen § 46g ArbGG übermittelt worden ist.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 02.01.2024 16:14
Quelle: Landesrechtsprechung Baden-Württemberg

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