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Unionsrechtliche und verfassungsrechtliche Grenzen für ein Bundestariftreuegesetz (Hartmann, ZFA 2023, 510)

Zu den Vorhaben der Ampel-Bundesregierung gehört die Schaffung eines Bundestariftreuegesetzes. Damit soll die Teilnahme an der öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung tariflicher Arbeitsbedingungen gebunden werden. Ein solches Gesetzgebungsprojekt muss sich an den Grenzen sowohl des Unionsrechts als auch des nationalen Verfassungsrechts messen lassen. Auf Unionsebene sind die Vorgaben des reformierten Entsenderechts sowie die primärrechtlich garantierte Dienstleistungsfreiheit maßgeblich. Im nationalen Verfassungsrecht steht der Schutz der Arbeitsvertragsfreiheit im Mittelpunkt. Daneben geht es um die Reichweite der Koalitionsfreiheit in ihrer positiven und negativen Ausprägung sowie um die Konsequenzen aus dem Demokratieprinzip.

I. Einleitung: Das Regelungsvorhaben eines Bundestariftreuegesetzes
II. Erscheinungsformen der Tariftreue

1. Deklaratorische und konstitutive Tariftreue
2. Vergabespezifische und sonstige Tariftreue
3. Ausgestaltung der Tariftreueanforderung
a) Ausdrückliches oder stillschweigendes Erfordernis einer Tariftreueerklärung
b) Tarifverträge oder Verordnungen als Bezugspunkte der Tariftreueerklärung
c) Auswahl der Bezugstarife
III. Unionsrechtliche Grenzen für ein Bundestariftreuegesetz
1. Rechtslage nach der Rüffert-Rechtsprechung des EuGH
a) Ausgangsfall und Vorabentscheidungsersuchen
b) Entsenderichtlinie und Dienstleistungsfreiheit in der Argumentation des EuGH
c) Bewertung der Kritik an der Rüffert-Entscheidung
2. Auswirkungen der RegioPost-Entscheidung des EuGH
a) Ausgangsfall und Vorabentscheidungsersuchen
b) Abweichung in der Argumentation gegenüber der Rüffert-Entscheidung
c) Konsequenzen für Tariftreueregelungen
3. Auswirkungen der reformierten Entsenderichtlinie
4. Auswirkungen der Mindestlohnrichtlinie
5. Zwischenergebnis
IV. Verfassungsrechtliche Grenzen für ein Bundestariftreuegesetz
1. Arbeitsvertragsfreiheit
a) Verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt
b) Schutzbereich
c) Eingriff
d) Rechtfertigung
aa) Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie
bb) Rechtfertigungsmaßstab
cc) Verhältnismäßigkeit
(1) Legitime Zwecksetzung
(2) Geeignetheit des Mittels
(3) Erforderlichkeit des Mittels
(a) Auswirkungen der Tariftreueerklärung
(b) Mildere Mittel zur Erreichung der verfolgten Ziele
(c) Vergleich verschiedener Ausgestaltungen der Tariftreue
(4) Proportionalität
(a) Auswirkungen der Tariftreueerklärung
(b) Abwägung im Rahmen der Angemessenheitsprüfung
(c) Vergleich verschiedener Ausgestaltungen der Tariftreue
e) Zwischenergebnis
2. Negative Koalitionsfreiheit
3. Positive Koalitionsfreiheit
a) Schutzbereich
b) Eingriff
aa) Eingriff wegen der faktischen Verdrängung nicht repräsentativer Tarifverträge
bb) Eingriff wegen faktischer Entwertung der Bezugstarife
cc) Zwischenergebnis
c) Rechtfertigung
aa) Legitime Zwecksetzung und Geeignetheit
bb) Erforderlichkeit
cc) Proportionalität
d) Zwischenergebnis
4. Demokratieprinzip
a) Bisherige Diskussion
b) Demokratische Legitimation der Tariftreueanforderungen
c) Verordnungsmodell nach saarländischem Vorbild als untauglicher Ausweg
d) Repräsentativitätskriterium und Demokratieprinzip
e) Zwischenergebnis
V. Ergebnisse


I. Einleitung: Das Regelungsvorhaben eines Bundestariftreuegesetzes

Die seit Ende 2021 amtierende Ampel-Bundesregierung bekennt sich in ihrem Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ zu dem Ziel, „die Tarifautonomie, die Tarifpartner und die Tarifbindung [zu] stärken, damit faire Löhne in Deutschland bezahlt werden“. Zur Erhöhung der Tarifbindung soll „die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrages der jeweiligen Branche gebunden“ werden. Im Dezember 2022 haben das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ein öffentliches Konsultationsverfahren durchgeführt. Anschließend haben die beiden Bundesministerien begonnen, einen gemeinsamen Entwurf für ein Bundestariftreuegesetz auszuarbeiten.

Die Bindung öffentlicher Aufträge an die Einhaltung von Tarifverträgen steht im Kontext der allgemeinen Tendenz, Vergabeentscheidungen als effektives Mittel zur Wirtschaftssteuerung zu nutzen. Lange Zeit war das Vergaberecht vor allem an dem einzelwirtschaftlichen Zweck orientiert, den staatlichen Bedarf zu möglichst günstigen Konditionen zu decken. Neben diese traditionelle Zielsetzung ist inzwischen die Möglichkeit getreten, im Rahmen des Beschaffungsprozesses neben Aspekten wie der Qualität und der Innovation auch umweltbezogenen und sozialen Zwecken Rechnung zu tragen (vgl. etwa §§ 97 Abs. 3, 124 Abs. 1 Nr. 1, 127 Abs. 1 S. 3, 128 Abs. 1 GWB sowie Art. 18 Abs. 2, 67 Abs. 2, 70 S. 2 RL 2014/24/EU). Die Bundesregierung schätzt das jährliche Beschaffungsvolumen öffentlicher Institutionen auf mehr als 10 % des deutschen Bruttoinlandsprodukts oder mindestens 300 Milliarden Euro. Die Bindung öffentlicher Aufträge an die Einhaltung von Tarifverträgen erweist sich vor diesem Hintergrund als Instrument zur Beeinflussung des Arbeitsmarkts mittels staatlicher Nachfragemacht.

Bei vergabespezifischen Tariftreueregelungen handelt es sich keineswegs um eine neuartige Erscheinung. In den Ländern sind erste Tariftreuegesetze bereits vor der Jahrtausendwende entstanden. Vorreiter war Berlin mit seinem Vergabegesetz aus dem Jahr 1999. Auch auf Bundesebene hat es bereits Bestrebungen zur Schaffung von Tariftreueanforderungen gegeben: Zuletzt ist das mit rot-grüner Mehrheit vom Bundestag im April 2002 beschlossene „Gesetz zur tariflichen Entlohnung bei öffentlichen Aufträgen und zur Einrichtung eines Registers über unzuverlässige Unternehmen“ im Bundesrat gescheitert. Die dortige Unionsmehrheit machte neben wirtschaftspolitischen Einwänden auch verfassungs- und europarechtliche Bedenken geltend.

Diese Zweifel waren keineswegs aus der Luft gegriffen. Bereits das Berliner Vergabegesetz aus dem Jahr 1999 hatte für eine verfassungsrechtliche Kontroverse gesorgt. Während der Kartellsenat des BGH einen Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit der tariffreien Anbieter annahm, hielt das BVerfG das Gesetz in einer Entscheidung aus dem Jahr 2006 für verfassungsgemäß. Später verlagerte sich die Diskussion zunehmend auf das Gebiet des Unionsrechts. Nachdem der EuGH in seiner Rüffert-Entscheidung aus dem Jahr 2008 die damalige Regelung des niedersächsischen Landesvergabegesetzes für unvereinbar mit dem seinerzeit geltenden Entsenderecht und der Dienstleistungsfreiheit erklärt hatte, mussten die bestehenden Regelungen auf Länderebene angepasst werden. Die geforderte Tariftreue bezieht sich in dieser zweiten Generation von Gesetzen zumindest jenseits der Vergabe von ÖPNV-Dienstleistungen nur noch auf die Einhaltung allgemeinverbindlicher Tarife sowie ggf. allgemeiner oder vergabespezifischer Mindestlöhne. Spätere EuGH-Entscheidungen wie das RegioPost-Urteil aus dem Jahr 2015 sowie die im Jahr 2018 überarbeitete Entsenderichtlinie haben nach Ansicht von Teilen der Literatur neue Spielräume für Tariftreueanforderungen eröffnet. In der dritten und jüngsten Generation von Landestariftreueregelungen, wie sie in Berlin, im Saarland und in Thüringen erlassen wurden, hängt die Vergabeentscheidung nun wieder von der Einhaltung auch solcher Tarife ab, die nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden sind.

Die soeben skizzierte Entwicklung könnte zu der Annahme verleiten, dass einer Tariftreueregelung auf Bundesebene keine unionsrechtlichen oder verfassungsrechtlichen Hürden entgegenstünden. Auch ein knappes Vierteljahrhundert nach Inkrafttreten der ersten landesrechtlichen Vorschriften ist die Rechtslage aber alles andere als geklärt. So sind in ersten Analysen der arbeitsrechtlichen Koalitionsvorhaben sogleich unions- und verfassungsrechtliche Bedenken gegen das geplante Bundestariftreuegesetz erhoben worden. Auf unionsrechtlicher Ebene werden vor allem die Vorgaben der aktuellen Entsenderichtlinie für die Rechtsquellen zu nationalen Mindestarbeitsbedingungen unterschiedlich interpretiert. Was die verfassungsrechtliche Lage anbelangt, hat die BVerfG-Entscheidung von 2006 zum Berliner Vergabegesetz nicht für endgültige Klarheit sorgen können. Dies sieht auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags so, wenn er auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Tariftreueregelungen mit der Koalitionsfreiheit im Juni 2022 Folgendes feststellt: „Über die Verfassungsmäßigkeit von Tariftreueklauseln gab es lange Zeit eine sehr kontroverse Diskussion, die auch durch die Entscheidung des BVerfG nicht völlig beendet wurde.“

Gegenstand dieses Beitrags sind die offenen unions- und verfassungsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit Tariftreueanforderungen. Konkret sollen die Spielräume des Bundesgesetzgebers beleuchtet werden, Vergabeentscheidungen an die Einhaltung von Tarifverträgen zu knüpfen. Dabei sollen nicht zuletzt verschiedene Ausgestaltungsmöglichkeiten einem Vergleich unterzogen werden. In einem ersten Schritt bedarf es daher eines Blicks auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Tariftreue (dazu II.), bevor die unionsrechtlichen Grenzen (dazu III.) und die verfassungsrechtlichen Vorgaben (dazu IV.) behandelt werden.

II. Erscheinungsformen der Tariftreue
Die Diskussionen über Fragen der Tariftreue leiden darunter, dass nicht immer klar ist, auf welche Erscheinungsform dieses Instruments sich die jeweiligen Ausführungen beziehen. Wie bereits angedeutet, bestehen auf Länderebene heute zwei Generationen von Tariftreueregelungen nebeneinander. Hinzu kommen verschiedene Ausgestaltungen, was die technische Umsetzung der Tariftreueanforderung anbelangt. Schließlich ist das genannte Lenkungsinstrument in abgewandelter Form inzwischen auch außerhalb des Vergaberechts zur Anwendung gekommen.

1. Deklaratorische und konstitutive Tariftreue
Bereits seit langem etabliert ist die Differenzierung danach, ob sich die Tariftreueanforderung lediglich auf die Einhaltung einer bereits bestehenden Bindung bezieht oder eine solche Bindung überhaupt erst im Rahmen des Vergabeverfahrens hergestellt werden soll.

Von deklaratorischer Tariftreue spricht man, wenn sich ein Anbieter zur Einhaltung eines Tarifvertrags verpflichtet, dessen Normen er ohnehin bereits unterliegt, weil eine Bindung nach §§ 3, 4 TVG besteht oder eine Tarifnormerstreckung z.B. nach § 5 TVG oder nach §§ 7, 7a AEntG erfolgt ist. Bedeutsam ist die Tariftreueerklärung in solchen Fällen nur insofern, als Verstöße gegen die bestehenden Tarifpflichten zusätzliche vergaberechtliche Sanktionen nach sich ziehen können. Die im Vergabeverfahren geforderten Erklärungen beziehen sich nicht selten auch auf die Einhaltung tarifunabhängiger allgemeiner oder vergabespezifischer Mindestlöhne. Weil es in diesen Fällen um die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben geht, ist der Begriff der Tariftreue insoweit nicht einschlägig.

Als konstitutive Tariftreue wird es bezeichnet, wenn sich ein Bieter im Rahmen des Vergabeverfahrens zur Einhaltung tariflicher Bedingungen verpflichtet, denen er nicht schon aus anderen Gründen unterliegt. In der Literatur ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der Begriff „Tariftreue“ an sich unpassend ist, wenn keine präexistente Bindung besteht, auf die sich die „Treue“ beziehen könnte. Weil sich die Bezeichnung in Rechtsprechung und Schrifttum durchgesetzt hat, soll sie im Folgenden gleichwohl verwendet werden.

Das Vorhaben eines Bundestariftreuegesetzes wird im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung zwar nicht ausdrücklich der konstitutiven Tariftreue zugeordnet. Die angestrebte Stärkung der Tarifbindung ließe sich mit einer lediglich deklaratorischen Tariftreueanforderung jedoch nicht verwirklichen. Dass es der Bundesregierung darauf ankommt, bislang tariffreie Unternehmen zur Anwendung tariflicher Arbeitsbedingungen zu bringen, geht etwa aus einer Äußerung von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hervor. Mit dem geplanten Bundestariftreuegesetz soll sich Deutschland der in Art. 4 der neuen Mindestlohn-Richtlinie 2022/2041/EU verankerten 80-Prozent-Marke für die „Tarifabdeckung“ annähern. 23 Auch dieses Ziel lässt sich allenfalls mit konstitutiven Tariftreueerklärungen erreichen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich daher, sofern nicht anders angegeben, ausschließlich auf konstitutive Tariftreueanforderungen.

2. Vergabespezifische und sonstige Tariftreue
Tariftreueanforderungen haben sich zunächst ausschließlich im Vergaberecht entwickelt. Inzwischen ist die vergabespezifische Tariftreue aber nicht mehr das einzige Anwendungsfeld für dieses Instrument. Nach § 72 Abs. 3a, 3b SGB XI ist der Abschluss von Versorgungsverträgen zwischen den Landesverbänden der Pflegekassen und den Trägern von Pflegeeinrichtungen seit September 2022 jedenfalls im Grundsatz an eine tarifliche Entlohnung gekoppelt. Mindestens ebenso bedeutsam ist die flankierende Regelung zur...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 28.11.2023 18:41
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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