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Krank oder Simulant? Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und seine Erschütterung - Ein Update (Steffan, ArbRB 2023, 243)

Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen haben grds. einen hohen Beweiswert. Dies hindert die meisten Arbeitgeber daran, bei Zweifeln an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit weitere Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts zu ergreifen oder die Entgeltfortzahlung einzustellen. Es bedarf allerdings nicht eines Gegenbeweises, sondern der Arbeitgeber muss „nur“ Umstände vortragen, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs ergibt.

I. Der Anscheinsbeweis der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
1. Reichweite des Anscheinsbeweises
2. Ordnungsgemäße Erteilung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
a) Formelle Anforderungen
b) Vorherige ordnungsgemäße Untersuchung
aa) Persönliche Untersuchung als Regelfall
bb) Ausnahmen während der Pandemie
cc) Lockerung des Fernbehandlungsverbots
II. Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
1. Die Ferndiagnose
2. Weitere Fälle der Erschütterung des Beweiswerts
a) Die „Klassiker“
b) Sonderfall „Rückdatierung“
c) Offensichtliche Arbeitsfähigkeit
3. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und Ende des Arbeitsverhältnisses
a) BAG, Urt. v. 8.9.2021 – 5 AZR 149/21
b) LAG Schleswig-Holstein, Urt. v. 2.5.2023 – 2 Sa 203/22
c) LAG Niedersachsen, Urt. v. 8.3.2023 – 8 Sa 859/22
III. Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers
1. Kündigung
2. Ermittlungen
IV. Fazit


I. Der Anscheinsbeweis der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Viele Arbeitgeber gehen davon aus, dass Arbeitnehmer bei Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) immer einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung haben. Richtigerweise besteht dieser Anspruch jedoch nur dann, wenn der Arbeitnehmer tatsächlich arbeitsunfähig infolge Krankheit ist.

Die Arbeitsunfähigkeit ist eine anspruchsbegründende Tatsache, die der Arbeitnehmer zu beweisen hat. Allerdings begründet die AU-Bescheinigung einen Anscheinsbeweis mit der Folge, dass die Gerichte eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit unterstellen.

1. Reichweite des Anscheinsbeweises
Den Anscheinsbeweis kann der Arbeitgeber nicht durch bloßes Bestreiten erschüttern. Er muss jedoch auch keinen Gegenbeweis führen, weil eine AU-Bescheinigung keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit beinhaltet. Vielmehr hat er lediglich Umstände vorzutragen – und im Bestreitensfall zu beweisen – die ernsthafte Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründen.

Weil der Arbeitgeber über die in der Sphäre des Arbeitnehmers liegenden Umstände nur eingeschränkte Erkenntnismöglichkeiten hat, dürfen an seine Darlegungslast keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Gelingt ihm die Erschütterung des Beweiswertes, ist der Zustand vor der AU-Bescheinigung wieder hergestellt und der Arbeitnehmer muss seinerseits Tatsachen vorbringen – und im Bestreitensfall beweisen – die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen.

2. Ordnungsgemäße Erteilung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Grundsätzlich kommt ein Anscheinsbeweis nur in Betracht, wenn die AU-Bescheinigung ordnungsgemäß ausgestellt wurde.

a) Formelle Anforderungen
Die AU-Bescheinigung muss von einem approbierten Arzt ausgestellt sein und verschiedene formelle Vorgaben erfüllen.

b) Vorherige ordnungsgemäße Untersuchung
Zudem ist entscheidend, ob die AU-Bescheinigung auf der Grundlage einer ordnungsgemäßen Untersuchung ausgestellt wurde.

aa) Persönliche Untersuchung als Regelfall
Im Regelfall ist eine persönliche Untersuchung durch den Arzt erforderlich, weil „die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (...) wegen der Tragweite für die Versicherten und ihrer arbeitsrechtlichen Bedeutung (...) besonderer Sorgfalt“ bedarf. Der Arzt hat bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit gleichermaßen den körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheitszustand des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. Für diesen Gesamteindruck reichen einfache Telefonate, elektronische Nachrichten oder vorgefertigte Fragestellungen in Apps nicht aus, zumal sich der Arzt ....
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 05.09.2023 09:32
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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