Aktuell in der ZFA
Die Rechtsfolge von Verstößen gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG (Mengel/Blume, ZFA 2023, 451)
Zum Vorlagebeschluss des Sechsten Senats des BAG vom 27.1.2022 und zur Entscheidung des EuGH v. 13.7.2023 - C-134/22.
1. Hintergrund und bisherige Rechtsprechung zu § 17 KSchG
a) Verstöße gegen die Anzeigepflicht gem. § 17 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2, Satz 3 KSchG
b) Verstöße gegen die Konsultationspflicht gem. § 17 Abs. 2 KSchG
2. Das Vorabentscheidungsverfahren
a) Der Sachverhalt und die relevante Rechtsfrage
b) Die Vorlagefrage
3. Maßstab zur Beantwortung
4. Die Schlussanträge des Generalanwalts
5. Die Entscheidung des EuGH
6. Ausblick
1. Hintergrund und bisherige Rechtsprechung zu § 17 KSchG
Kurzreferat: Der Sechste Senat hatte mit seinem Beschluss vom 27.1.2022 dem EuGH die Frage vorgelegt, ob Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der europäischen Richtlinie 98/59/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (MERL, ABl. Nr. L 225 v. 12.8.1998, 16) „individualschützenden“ Charakter hat. Hintergrund ist die Frage zum Normzweck von § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, der auf der entsprechenden Richtlinienvorgabe beruht. Danach hat der Arbeitgeber „gleichzeitig“ mit seiner Mitteilung zur beabsichtigten Massenentlassung an den Betriebsrat eine Abschrift der Mitteilung an die Agentur für Arbeit zu übermitteln. Der Sechste Senat möchte das deutsche Recht aus systematischen und historischen Gründen so auslegen, dass ein Verstoß gegen diese Pflicht zur Übermittlung einer Kopie an die Agentur – in Form einer verspäteten oder unterbliebenen Zuleitung – nicht zur Unwirksamkeit der späteren Massenentlassungskündigungen gem. § 134 BGB führt. Dies setzt voraus, dass auch die MERL keinen solchen individualschützenden Zweck der Vorabinformation an die Behörde vorgibt.
Neben der Pflicht nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, „gleichzeitig“ mit der Mitteilung zur beabsichtigten Massenentlassung an den Betriebsrat eine Abschrift an die Agentur für Arbeit zu übermitteln, enthält § 17 KSchG noch zwei weitere wesentliche Pflichten des Arbeitgebers: Erstens die Pflicht zur Anzeige der Massenentlassung bei der zuständigen Agentur für Arbeit gem. § 17 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2, Satz 3 KSchG und zweitens die Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats vor Durchführung der Massenentlassung gem. § 17 Abs. 2 KSchG. Diese beiden Pflichten und Rechtsfolgen von Verstößen dagegen waren bereits mehrfach Gegenstand der Rechtsprechung des BAG.Der EuGH hat der Ansicht des BAG zur Auslegung der Richtlinie in seiner Entscheidung vom 13.7.2023 (C-134/22) zugestimmt und die Vorabentscheidungsfrage so beantwortet: Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 ist dahin auszulegen, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in ihrem Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln, nicht den Zweck hat, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.
a) Verstöße gegen die Anzeigepflicht gem. § 17 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2, Satz 3 KSchG
Nach ständiger Rechtsprechung des BAG führen Verstöße gegen die Pflicht des Arbeitgebers gem. § 17 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1, Satz 2 KSchG zur Anzeige von Massenentlassungen bei der Agentur für Arbeit zur Unwirksamkeit der späteren Kündigungen. 2 Denn die Anzeigepflicht stellt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ein Verbotsgesetz dar, so dass die Kündigung ohne vorherige (ordnungsgemäße) Anzeige gemäß 134 BGB nichtig ist.
Diese Auffassung vertritt das BAG allerdings erst, seitdem der EuGH im Jahr 2005 in der damals bahnbrechenden Entscheidung „Junk“ entschieden hatte, nach europäischem Recht sei das maßgebliche „Ereignis“ zur Anknüpfung der diversen Verhaltenspflichten die geplante „Kündigungserklärung“ des Arbeitgebers und nicht, wie zuvor für das deutsche Recht angenommen, das Auslaufen der Kündigungsfrist (letzter Tag). Die zuvor abweichende Auslegung ergab sich deshalb, weil der deutsche Gesetzgeber für § 17 KSchG
den Wortlaut der MERL übernommen und die Pflichten des Arbeitgebers an die „Entlassung“ geknüpft hatte. Traditionell war jedoch arbeitsrechtlich der Begriff der „Entlassung“ abzugrenzen vom dem der „Kündigung“. Als „Kündigung“ gilt die einseitige Willenserklärung, die zwar die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bewirkt, aber zunächst die Kündigungsfrist in Gang setzt, während die „Entlassung“ als tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses am Ende der Kündigungsfrist verstanden wird. Mit diesem Verständnis konnten Arbeitgeber bis 2005 die Massenentlassung der Agentur für Arbeit noch nach Übergabe der Kündigungen bis zum Ende der Kündigungsfristen anzeigen. Entsprechend vertrat das BAG die Auffassung, dass mit der Anzeige kein individueller Arbeitnehmerschutz verfolgt werde, so dass bei Verstoß gegen die Anzeigepflicht die Kündigungen nicht unwirksam wurden.
Nach der Entscheidung des EuGH vom 27.1.2005, dass Entlassung i.S.v. Art. 2 MERL die Kündigungserklärung und nicht die (tatsächliche) Beendigung des Arbeitsverhältnisses sei, änderte auch das BAG seine Auslegung von § 17 KSchG
europarechtskonform entsprechend und nahm auch einen individualschützenden Charakter der Anzeigepflicht an. Denn bei richtlinienkonformer Auslegung könne nur durch die Rechtsfolge der Unwirksamkeit bei Verstößen der Sinn...