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Unionsrechtliche und verfassungsrechtliche Grenzen für ein Bundestariftreuegesetz (Hartmann, ZFA 2023, ZFA0058317)

Zu den Vorhaben der Ampel-Bundesregierung gehört die Schaffung eines Bundestariftreuegesetzes. Damit soll die Teilnahme an der öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung tariflicher Arbeitsbedingungen gebunden werden. Ein solches Gesetzgebungsprojekt muss sich an den Grenzen sowohl des Unionsrechts als auch des nationalen Verfassungsrechts messen lassen. Auf Unionsebene sind die Vorgaben des reformierten Entsenderechts sowie die primärrechtlich garantierte Dienstleistungsfreiheit maßgeblich. Im nationalen Verfassungsrecht steht der Schutz der Arbeitsvertragsfreiheit im Mittelpunkt. Daneben geht es um die Reichweite der Koalitionsfreiheit in ihrer positiven und negativen Ausprägung sowie um die Konsequenzen aus dem Demokratieprinzip.


Inhaltsübersicht

I. Einleitung: Das Regelungsvorhaben eines Bundestariftreuegesetzes

II. Erscheinungsformen der Tariftreue

1. Deklaratorische und konstitutive Tariftreue

2. Vergabespezifische und sonstige Tariftreue

3. Ausgestaltung der Tariftreueanforderung

a) Ausdrückliches oder stillschweigendes Erfordernis einer Tariftreueerklärung

b) Tarifverträge oder Verordnungen als Bezugspunkte der Tariftreueerklärung

c) Auswahl der Bezugstarife

III. Unionsrechtliche Grenzen für ein Bundestariftreuegesetz

1. Rechtslage nach der Rüffert-Rechtsprechung des EuGH

a) Ausgangsfall und Vorabentscheidungsersuchen

b) Entsenderichtlinie und Dienstleistungsfreiheit in der Argumentation des EuGH

c) Bewertung der Kritik an der Rüffert-Entscheidung

2. Auswirkungen der RegioPost-Entscheidung des EuGH

a) Ausgangsfall und Vorabentscheidungsersuchen

b) Abweichung in der Argumentation gegenüber der Rüffert-Entscheidung

c) Konsequenzen für Tariftreueregelungen

3. Auswirkungen der reformierten Entsenderichtlinie

4. Auswirkungen der Mindestlohnrichtlinie

5. Zwischenergebnis

IV. Verfassungsrechtliche Grenzen für ein Bundestariftreuegesetz

1. Arbeitsvertragsfreiheit

a) Verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt

b) Schutzbereich

c) Eingriff

d) Rechtfertigung

aa) Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie

bb) Rechtfertigungsmaßstab

cc) Verhältnismäßigkeit

(1) Legitime Zwecksetzung

(2) Geeignetheit des Mittels

(3) Erforderlichkeit des Mittels

(4) Proportionalität

e) Zwischenergebnis

2. Negative Koalitionsfreiheit

3. Positive Koalitionsfreiheit

a) Schutzbereich

b) Eingriff

aa) Eingriff wegen der faktischen Verdrängung nicht repräsentativer Tarifverträge

bb) Eingriff wegen faktischer Entwertung der Bezugstarife

cc) Zwischenergebnis

c) Rechtfertigung

aa) Legitime Zwecksetzung und Geeignetheit

bb) Erforderlichkeit

cc) Proportionalität

d) Zwischenergebnis

4. Demokratieprinzip

a) Bisherige Diskussion

b) Demokratische Legitimation der Tariftreueanforderungen

c) Verordnungsmodell nach saarländischem Vorbild als untauglicher Ausweg

d) Repräsentativitätskriterium und Demokratieprinzip

e) Zwischenergebnis

V. Ergebnisse


I. Einleitung: Das Regelungsvorhaben eines Bundestariftreuegesetzes

Die seit Ende 2021 amtierende Ampel-Bundesregierung bekennt sich in ihrem Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ zu dem Ziel, „die Tarifautonomie, die Tarifpartner und die Tarifbindung [zu] stärken, damit faire Löhne in Deutschland bezahlt werden“. Zur Erhöhung der Tarifbindung soll „die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrages der jeweiligen Branche gebunden“ werden. Im Dezember 2022 haben das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ein öffentliches Konsultationsverfahren durchgeführt. Anschließend haben die beiden Bundesministerien begonnen, einen gemeinsamen Entwurf für ein Bundestariftreuegesetz auszuarbeiten.

Die Bindung öffentlicher Aufträge an die Einhaltung von Tarifverträgen steht im Kontext der allgemeinen Tendenz, Vergabeentscheidungen als effektives Mittel zur Wirtschaftssteuerung zu nutzen. Lange Zeit war das Vergaberecht vor allem an dem einzelwirtschaftlichen Zweck orientiert, den staatlichen Bedarf zu möglichst günstigen Konditionen zu decken. Neben diese traditionelle Zielsetzung ist inzwischen die Möglichkeit getreten, im Rahmen des Beschaffungsprozesses neben Aspekten wie der Qualität und der Innovation auch umweltbezogenen und sozialen Zwecken Rechnung zu tragen (vgl. etwa §§ 97 Abs. 3, 124 Abs. 1 Nr. 1, 127 Abs. 1 S. 3, 128 Abs. 1 GWB sowie Art. 18 Abs. 2, 67 Abs. 2, 70 S. 2 RL 2014/24/EU). Die Bundesregierung schätzt das jährliche Beschaffungsvolumen öffentlicher Institutionen auf mehr als 10 % des deutschen Bruttoinlandsprodukts oder mindestens 300 Milliarden Euro. Die Bindung öffentlicher Aufträge an die Einhaltung von Tarifverträgen erweist sich vor diesem Hintergrund als Instrument zur Beeinflussung des Arbeitsmarkts mittels staatlicher Nachfragemacht.

Bei vergabespezifischen Tariftreueregelungen handelt es sich keineswegs um eine neuartige Erscheinung. In den Ländern sind erste Tariftreuegesetze bereits vor der Jahrtausendwende entstanden. Vorreiter war Berlin mit seinem Vergabegesetz aus dem Jahr 1999. Auch auf Bundesebene hat es bereits Bestrebungen zur Schaffung von Tariftreueanforderungen gegeben: Zuletzt ist das mit rot-grüner Mehrheit vom Bundestag im April 2002 beschlossene „Gesetz zur tariflichen Entlohnung bei öffentlichen Aufträgen und zur Einrichtung eines Registers über unzuverlässige Unternehmen“ im Bundesrat gescheitert. Die dortige Unionsmehrheit machte neben wirtschaftspolitischen Einwänden auch verfassungs- und europarechtliche Bedenken geltend.

Diese Zweifel waren keineswegs aus der Luft gegriffen. Bereits das Berliner Vergabegesetz aus dem Jahr 1999 hatte für eine verfassungsrechtliche Kontroverse gesorgt. Während der Kartellsenat des BGH einen Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit der tariffreien Anbieter annahm, hielt das BVerfG das Gesetz in einer Entscheidung aus dem Jahr 2006 für verfassungsgemäß. Später verlagerte sich die Diskussion zunehmend auf das Gebiet des Unionsrechts. Nachdem der EuGH in seiner Rüffert-Entscheidung aus dem Jahr 2008 die damalige Regelung des niedersächsischen Landesvergabegesetzes für unvereinbar mit dem seinerzeit geltenden Entsenderecht und der Dienstleistungsfreiheit erklärt hatte, mussten die bestehenden Regelungen auf Länderebene angepasst werden. Die geforderte Tariftreue bezieht sich in dieser zweiten Generation von Gesetzen zumindest jenseits der Vergabe von ÖPNV-Dienstleistungen nur noch auf die Einhaltung allgemeinverbindlicher Tarife sowie ggf. allgemeiner oder vergabespezifischer Mindestlöhne. Spätere EuGH-Entscheidungen wie das RegioPost-Urteil aus dem Jahr 2015 sowie die im Jahr 2018 überarbeitete Entsenderichtlinie haben nach Ansicht von Teilen der Literatur neue Spielräume für Tariftreueanforderungen eröffnet. In der dritten und jüngsten Generation von Landestariftreueregelungen, wie sie in Berlin, im Saarland und in Thüringen erlassen wurden, hängt die Vergabeentscheidung nun wieder von der Einhaltung auch solcher Tarife ab, die nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden sind.

Die soeben skizzierte Entwicklung könnte zu der Annahme verleiten, dass (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 15.08.2023 10:31
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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