Otto Schmidt Verlag

SG Gießen v. 15.5.2023 - S 14 AL 4/23

Insolvenzgeldanspruch bei aufeinanderfolgenden Insolvenzereignissen

Bei aufeinanderfolgenden Insolvenzereignissen ist grundsätzlich das zeitlich erste für den Insolvenzgeldanspruch maßgebend. Etwas anderes gilt nur, wenn der Arbeitgeber zwischenzeitlich wieder Zahlungsfähigkeit erlangt hat. Sieht eine laufender Insolvenzplan die Ausschüttung des festgelegten Betrages an die Insolvenzgläubiger vor und ist mittels einer Treuhandabrede die Zahlung des Gesamtbetrages sichergestellt, so ist für die Frage des Bestehens eines erneuten Anspruchs auf Insolvenzgeld auch bei bestehender Planüberwachung darauf abzustellen, ob der Arbeitgeber wieder in der Lage war, seine fälligen Geldschulden im Allgemeinen zu erfüllen. Einer laufenden Planüberwachung kommt insoweit lediglich indizielle Wirkung zu.

Der Sachverhalt:
Der Kläger begehrt die Zahlung von Insolvenzgeld. Er war von Mai 2010 bis März 2020 und dann ab 1.7.2022 als Teamleiter der Elektrowerkstatt bei einer regional bekannten Maschinenfabrik beschäftigt. Mit Beschluss vom 27.11.2019 eröffnete das AG Wetzlar das Insolvenzverfahren (Erstinsolvenzverfahren) über das Vermögen des Arbeitgebers. Ein im Rahmen dessen aufgestellter Insolvenzplan (13.7.2020) sah vor, dass zur Befriedigung der Gläubiger zwei Ausschüttungszahlungen i.H.v. insgesamt 750.000 € erfolgen, die bis dahin durch einen Treuhänder verwaltet und dessen ordnungsgemäße Auszahlung von diesem überwacht werden sollte (Planüberwachung).

Mit Beschluss vom 28.9.2020 hob das AG Wetzlar das Insolvenzverfahren daraufhin auf. Unter dem 16.11.2022 wurde erneut ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Arbeitsgebers eröffnet, u.a. infolge der Tatsache, dass die Beklagte die Vorfinanzierung von Insolvenzgeld ablehnte. Zu diesem Zeitpunkt waren nur noch weniger als 2 % des hinterlegten Betrages zur Auszahlung offen, da noch ein Gutachten des Pensionssicherungsvereins ausstand.

Alle 67 Mitarbeiter verloren ihren Arbeitsplatz. Den am 6.12.2022 gestellten Antrag auf Insolvenzgeld lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 7.12.2022 unter Hinweis darauf ab, dass ein erneutes arbeitsförderungsrechtliches Insolvenzereignis nicht eingetreten sei. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 21.12.2022).

Mit der Klage vom 5.1.2023 verfolgt der Kläger, wie eine Vielzahl seiner Kolleginnen und Kollegen darauffolgend, sein Begehren fort. Nur weil die Überwachung des Insolvenzplan formal noch fortbestanden habe, bedeute dies nicht, dass ein neues Insolvenzereignis mit Anspruch auf Insolvenzgeld nicht in Betracht komme - zumal die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers beseitig gewesen sei.

Das SG hat die Beklagte zur Zahlung des Insolvenzgeldes im streitgegenständlichen Zeitraum verurteilt. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig.

Die Gründe:
Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers ist § 165 Abs. 1 Satz 1 SGB III. Als Insolvenzereignis gilt nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III u.a. die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitsgebers. Dieses arbeitsförderungsrechtlich relevante Insolvenzereignis ist mit der Eröffnung des zweiten Insolvenzverfahrens am 16.11.2022 eingetreten.

Das erste Insolvenzereignis aus 2019 hat keine Sperrwirkung entfaltet. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist bei der Frage nach dem Bestehen eines Anspruchs auf Insolvenzgeld im Falle des Aufeinanderfolgens mehrere Insolvenzereignisse grundsätzlich das zeitlich erste für den Insolvenzgeldanspruch maßgebend. Ein neues arbeitsförderungsrechtlich relevantes Insolvenzereignis tritt nicht ein, solange die auf einem bestimmten Insolvenzereignis beruhende Zahlungsunfähigkeit des Arbeitsgebers noch andauert.

Wenngleich das BSG vertritt, dass bei andauernder Planüberwachung „besonders deutlich“ erkennbar werde, dass die Zahlungsunfähigkeit fortbesteht, ist diese formale Betrachtungsweise aber nicht in jedem Falle zur Abgrenzung geeignet. Denn hat der Arbeitgeber den Gesamtausschüttungsbetrag treuhänderisch gesichert, steht fest, dass die Gläubiger entsprechend des Insolvenzplans befriedigt werden. Die Beurteilung der Wiedererlangung der Zahlungsfähigkeit muss daher auch bei andauernder Planüberwachung im konkreten Einzelfall geprüft werden.

Hier hat der Arbeitgeber die Fähigkeit wiedergewonnen, seine fälligen Geldschulden im Allgemeinen zu erfüllen. Hierfür spricht u.a. eine Sondertilgung von über 1,2 Mio € Ende 2021 auf ein erst 2020 aufgenommenes Darlehen über mehr als 2 Mio €. Im Übrigen ist es arbeitsförderungsrechtlich geboten, Insolvenzgeld auch bei laufender Planüberwachung nicht von vornherein auszuschließen. Denn bei einer laufenden Sanierung bestünde sonst die Besorgnis, dass die Arbeitnehmer abwandern, da sie Gefahr laufen, bei Scheitern der Sanierung auf ihren Arbeitsentgeltansprüchen (ersatzlos) sitzen zu bleiben.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 05.06.2023 15:34
Quelle: SG Gießen PM vom 17.5.2023

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