Otto Schmidt Verlag

BAG v. 11.5.2023 - 6 AZR 157/22 (A)

EuGH-Vorlage zu Massenentlassungen: Darf falsche Beurteilung der Betriebsgröße zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen?

Hat ein Arbeitgeber die Betriebsgröße falsch beurteilt und deshalb keine Massenentlassungsanzeige erstattet, ist jedoch derzeit unklar, ob dies - wie vom BAG in ständiger Rechtsprechung seit 2012 angenommen - weiterhin zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Das vom BAG entwickelte Sanktionssystem steht möglicherweise nicht im Einklang mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes, wie er durch die Massenentlassungsrichtlinie (MERL) vermittelt wird, und könnte darum unverhältnismäßig sein.

Der Sachverhalt:
Der Kläger war bei einem Großhandels- und Wartungsunternehmen tätig. Bis September 2020 waren dort 25 Arbeitnehmer beschäftigte. Es gab keinen Betriebsrat. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 1.12.2020 legte der zum Insolvenzverwalter bestellte Beklagte den Betrieb still und kündigte innerhalb von 30 Tagen mind. zehn Arbeitnehmern, darunter dem Kläger, ohne zuvor eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG erstattet zu haben.

Der Beklagte war der Auffassung, einer entsprechenden Anzeige habe es nicht bedurft. Das Tatbestandsmerkmal „in der Regel“ stelle auf den Zeitpunkt der Entlassung und damit auf einen Stichtag ab. Die BAG-Rechtsprechung zur Ermittlung der personellen Betriebsstärke sei unionsrechtswidrig. Zum maßgeblichen Stichtag seien bei der Schuldnerin aufgrund von Aufhebungsverträgen und Eigenkündigungen weniger als 21 Arbeitnehmer beschäftigt gewesen. Das LAG hat die Kündigung aufgrund der fehlenden Massenentlassungsanzeige für unwirksam erklärt und der Kündigungsschutzklage stattgegeben.

Das BAG hat das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache - C-134/22 - (Vorabentscheidungsersuchen des Sechsten Senats vom 27.1.2022 - 6 AZR 155/21 (A)) ausgesetzt.

Die Gründe:
Das in § 17 Abs. 1 KSchG für die Ermittlung der erforderlichen personellen Betriebsstärke maßgebliche Tatbestandsmerkmal „in der Regel“ enthält weder eine Stichtagsregelung noch verlangt es eine Durchschnittsbetrachtung. Es stellt vielmehr auf die Anzahl der beschäftigten Arbeitnehmer ab, die für den gewöhnlichen Ablauf des betreffenden Betriebs kennzeichnend ist. Hierzu bedarf es eines Rückblicks auf den bisherigen Personalbestand und gegebenenfalls - sofern keine Betriebsstilllegung erfolgt - einer Einschätzung der zukünftigen Entwicklung. Zeiten eines außergewöhnlich hohen oder niedrigen Geschäftsgangs sind nicht zu berücksichtigen. Das ist durch die EuGH-Rechtsprechung bereits geklärt.

Hat ein Arbeitgeber die Betriebsgröße falsch beurteilt und deshalb keine Massenentlassungsanzeige erstattet, ist jedoch derzeit unklar, ob dies - wie vom BAG in ständiger Rechtsprechung seit 2012 angenommen - weiterhin zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Das vom BAG entwickelte Sanktionssystem steht möglicherweise nicht im Einklang mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes, wie er durch die Massenentlassungsrichtlinie (MERL) vermittelt wird, und könnte darum unverhältnismäßig sein.

Vor dem Hintergrund der Erwägungen des Generalanwalts in seinen am 30.3.2023 in der Rechtssache - C-134/22 - verkündeten Schlussanträgen zum Verhältnis von Anzeige- und Konsultationsverfahren zueinander hat der Senat nach Anhörung der Parteien den vorliegenden Rechtsstreit bis zur Entscheidung des EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen in entsprechender Anwendung des § 148 ZPO ausgesetzt, um auf der rechtlichen Grundlage der zu erwartenden Entscheidung die Sanktionen bei Verstößen des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG bestimmen zu können.

Mehr zum Thema:

Kommentierung
Kündigungsschutzgesetz (KSchG)
Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 10. Aufl. 2022

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 12.05.2023 13:31
Quelle: BAG PM Nr. 23 v. 11.5.2023

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