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CSRD und Nachhaltigkeitsberichtsstandards: Bewertung und Kritik der EFRAG-Entwürfe (Nettesheim, ZFA 2023, 166)

Die EU-Kommission hat am 21.4.2021 den Entwurf einer Richtlinie zur nicht-finanziellen Berichterstattung von Unternehmen vorgelegt (CSRD-E 2021), der im Trilogverfahren wesentlich weiterentwickelt wurde (CSRD-E 2022). Unternehmen werden darin zu einer „Nachhaltigkeitsberichterstattung“ verpflichtet. In dem Entwurf wird die European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) beauftragt, hierfür Nachhaltigkeitsstandards zu entwickeln, die von der EU-Kommission als delegierte Rechtsakte zu erlassen sind. Am 29.4.2022 legte die EFRAG den Entwurf dieser Standards vor. Die Untersuchung geht der Frage nach, ob sich die von der EFRAG entwickelten Nachhaltigkeitsstandards innerhalb des sekundär- und primärrechtlichen Rahmens bewegen. Nur wenn dies der Fall wäre, könnte die EU-Kommission diese in delegierten Rechtsakt überführen. Die Untersuchung, die sich auf Standards im Bereich der Sozialfaktoren beschränkt, kommt zum Ergebnis, dass die von der EFRAG ausgearbeiteten Standards in einer Vielzahl von Punkten mit den Vorgaben unvereinbar sind.

I. Einleitung und Fragestellung
1. Die Entwicklung von europäischen Nachhaltigkeitsberichtsstandards (ESRS)
2. Fragestellung und Vorgehen
II. Normative Anforderungen an Nachhaltigkeitsstandards nach Art. 19b Abs. 1 CSRD-E (2021) bzw. Art. 29b CSRD-E (2022)
1. Primärrechtliche Vorgaben
a) Kompetenzgrenzen der EU
b) EU-Grundrechte und EU-Werte
c) Verhältnismäßigkeitsprinzip
d) Hinreichende Bestimmtheit
2. Sekundärrechtliche Vorgaben
III. Rechtliche Defizite und Mängel der EFRAG-Entwürfe
1. Grundsätzliche Strukturprobleme
a) Rechtlich zwingende Verhaltensvorgaben und Nachhaltigkeitsberichterstattung
b) Aufbaudefizite
aa) Berichtsebenen in der CSRD: Empirische Lagebeschreibung, Bewertungen, Beschreibung unternehmerischer Entscheidungen und akzessorische Informationen
bb) Der gegenläufige Aufbau der EFRAG-Berichtsstandards
c) Informationsmaß
aa) Kriterium der Notwendigkeit
bb) Abgestufte Anforderungen an die Informationsdichte
cc) Normative Anforderungen für den Rückgriff auf Referenzwerke
d) Beschreibung der wichtigsten negativen Auswirkungen (Art. 19a Abs. 2 Buchst. e (iii) CSRD-E)
aa) Konzept der negativen Auswirkung auf einen Nachhaltigkeitsfaktor
bb) Negative Auswirkungen und positive Förderungshandlungen
cc) Beschränkung der Berichtspflicht auf die „wichtigsten“ negativen Auswirkungen
e) Beschränkungen im Bereich der Beschreibung von Auswirkungen in den Wertschöpfungsketten
f) Asymmetrie der Berichterstattung über negative Auswirkungen und Unternehmenschancen (Art. 19a Abs. 2 a) (ii) CSRD-E und Art. 19a Abs. 1 Buchst. e (iii) CSRD-E)
2. Bestimmung und Verarbeitung menschen- und grundrechtlicher Standards
3. Überdehnungen des von der CSRD gezogenen Rahmens
a) Berichtspflichten über die Sozialfaktoren hinaus: „entity-specific disclosure“ (ESRS S1–6 (Nr. 45–48))
b) Berichtspflichten über Fördermaßnahmen (z.B. ESRS S1–5 (Nr. 39, 40); ESRS S2–5 (Nr. 31–36))
c) Berichtspflichten über unternehmerische Nachhaltigkeitsziele (ESRS S1–4 (Nr. 32-38))
d) Einbeziehung von Berichtsfeldern jenseits des CSRD-Rahmens
aa) Unterbringung (ESRS S1 Nr. 2 (c) vi; ESRS S1 Nr. 29 (c)).
bb) Soziale Absicherung (ESRS S1 (Nr. 2 (a) (vi); ESRS S1–15 (Nr. 75–78))
cc) Verbesserung der Gesundheit der Beschäftigten (ESRS S1–10 (Nr. 58–61))
dd) Verbesserung der allgemeinen Lebenssituation der Beschäftigten (z.B. ESRS S1–5 (Nr. 39 (b), Nr. 40 (b)); ESRS S2–5 (Nr. 32))
e) Unzulässige Pflicht zur rückwirkenden Berichterstattung
4. Berichtspflichten im Bereich normativer Standards
a) Normative Verhaltensstandards und Umsetzung in Berichtspflichten
b) Unzulässige Entwicklung eigener normativer Verhaltensstandards durch die EFRAG
aa) Entlohnung (ESRS S1–14 (Nr. 70–74))
bb) Privatheitsschutz (ESRS S1–16 (Nr. 116–118))
cc) Verbesserung des Qualifikationsniveaus (ESRS S1–9; ESRS S1 AG 77–78)
dd) Reichweite des „sozialen Dialogs“ (ESRS S1–24 (Nr. 110 (d))
ee) Due-diligence-Kanäle zu den Beschäftigten (ESRS 2 (Nr. 36–38); ESRS S1–2 und S1–3)
c) Übergang zu gruppenbezogenen Informationen
aa) Berichtspflichten über empirische Gegebenheiten ohne unmittelbare Aussagekraft (z.B. ESRS S1–7, ESRS S1–8, ESRS S1–19)
bb) Berichtspflichten über empirische Gegebenheiten ohne erkennbaren Nachteilsbezug (z.B. ESRS S1–16, ESRS S1–17, ESRS S1–20)
5. Rechtsstaatliche Defizite der von der EFRAG entwickelten Standards
a) Unbestimmtheit (z.B. ESRS S1–18 (Nr. 85–90); ESRS S1–25 (Nr. 111–115))
b) Verletzung grundrechtlicher Wertungen (z.B. ESRS S1–19 (Nr. 91–93))
c) Unzulässige Verwendung von Vermutungsregeln zu Lasten der Unternehmen (ESRS 1 – General Principles 1 S. 14 (Nr. 57))
IV. Fazit und Zusammenfassung
 

I. Einleitung und Fragestellung

1. Die Entwicklung von europäischen Nachhaltigkeitsberichtsstandards (ESRS)

Die EU-Kommission hat am 21.4.2021 den Entwurf einer Richtlinie vorgelegt, die die Anforderungen wesentlich umformuliert und weiterentwickelt, die bislang an die nicht-finanzielle Berichterstattung der Unternehmen gestellt werden.

Den Unternehmen wird künftig eine „Nachhaltigkeitsberichterstattung“ abverlangt, die sich auf insgesamt drei Bereiche bezieht: Umweltfaktoren („ecology“), Sozialfaktoren („social“) und Governancefaktoren („governance“). EU-Kommission, Rat und Europäisches Parlament haben sich im Juni 2022 im Trilogverfahren auf einen Text geeinigt, der die Inhalte des Kommissionsvorschlags in wesentlichen Teilen übernimmt. Teilweise wird der Vorschlag aber auch nicht unerheblich weiterentwickelt. Die im Juni 2022 vereinbarten Änderungen betreffen im hier interessierenden Zusammenhang z.B. eine Verzahnung der CSRD mit der in einem parallelen Gesetzgebungsverfahren befindlichen EU-Lieferketten-RL. Zugleich wurden die Regelungen des CSRD-E (2021) über den Inhalt der Berichtspflichten noch über den Kommissionsvorschlag hinaus ausgeweitet. Für Unternehmen kleiner und mittlerer Größe ist eine Verringerung der Berichtslast vorgesehen (Art. 19a Abs. 5 und Abs. 5a, Art. 29c CSRD-E (2022)). Die Stellung und die Aufgaben der European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) wurden präzisiert; das Gebot der Unabhängigkeit von Lobby- und Interessengruppen wurde explizit aufgenommen.

Schon während der politischen Verhandlungen der EU-Organe über den CSRD-E (2021) legte die EFRAG die in Art. 19b Abs. 1, Art. 49 Abs. 3a CSRD-E (2021) (bzw. Art. 29b CSRD-E (2022)) vorgesehenen Entwürfe von Nachhaltigkeitsstandards vor. Die EFRAG eröffnete am 29.4.2022 die Möglichkeit, die vorgelegten Dokumente bis zum 8.8.2022 zu kommentieren („public consultation“). Daneben wurden Diskussionsveranstaltungen organisiert („outreach events“). Grundlage der Öffentlichkeitsbeteiligung ist eine „Cover Note for Public Consultation“, in der die Struktur der vorlegten Entwürfe und das Vorgehen erläutert werden.

Die EFRAG stellt ein Konzept europäischer Nachhaltigkeitsberichtsstandards vor, das auf insgesamt 13 Teilen beruht. Den Vorstellungen der EFRAG zufolge sollen die allgemeinen Vorgaben für die Nachhaltigkeitsberichterstattung in zwei Grunddokumenten formuliert werden (ESRS 1 – General Principles; ESRS 2 – General, strategy, goveranance and materiality assessment disclosure requirements). Für den Bereich der Umweltfaktoren sieht die EFRAG dann fünf Dokumente vor (ESRS E1 – Climate change; ESRS E2 – Pollution; ESRS E3 – Water and marine resources; ESRS E4 – Biodiversity and ecosystems; ESRS E5 – Resource use and cirular economy). Für den Bereich der Sozialfaktoren sind vier Dokumente vorgesehen (ESRS S1 – Own workforce; ESRS E2 – Workers in the value chain; ESRS E3 – Affected communities; ESRS E4 – Consumers and end-users). Der Bereich der Governancefaktoren soll von zwei Dokumenten abgedeckt werden (ESRS G1 – Goverance, risk management and internal control; ESRS G2 – Business conduct). Diese Dokumente werden jeweils von weiteren Schriften begleitet, in denen die EFRAG die „basis for conclusions“ (BC) darlegt. Die EFRAG vertritt die Auffassung, dass die den Berichtsstandards beigefügten „application guidances“ bindende normative Qualität haben. Die „basis for conclusions“ werden nicht den Berichtsstandards zugerechnet und haben damit grundsätzlich keine Bindungswirkung; es ist allerdings absehbar, dass sie für die Interpretation der Standards nicht ohne Bedeutung sind.

Die vorgelegten Dokumente umfassen insgesamt 753 PDF-Seiten. Davon entfallen 395 Seiten auf die normativen Standards und 358 Seiten auf die von der EFRAG vorgelegten „basis for conclusions“. Insgesamt formuliert die EFRAG – je nach Einordnung von Unterpunkten – zwischen 1200 und 2000 verschiedene Berichtspflichten. Die Detailliertheit der Bemühungen um Erfassung der unternehmerischen Lage, Organisationsstrukturen und Entscheidungen beeindruckt. Die vorgelegten Dokumente lassen erneut erkennen, dass die EU jedenfalls in regulatorischer Hinsicht heute der leistungsfähigste und wirkmächtigste Hoheitsträger der Welt sein will. Während man vor einem Jahrzehnt noch das Ziel formulierte, die EU zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, scheint es heute vor allem um eine höchsteffektive regulatorische Steuerung zu gehen. Ohne Zweifel werden einige Wirtschaftszweige stark davon profitieren, dass den Unternehmen möglichst umfassende Berichtspflichten auferlegt werden – der Markt für ESG-Beratung ist in den letzten Jahren explodiert. Die Kosten, die den Unternehmen durch die Auferlegung möglichst feingranularer Berichtspflichten entstehen, werden in den vorgelegten Berichtsstandards allerdings nicht erkennbar reflektiert. Mehr als ein bedeutungsloses Bekenntnis zur Wahrung der Angemessenheit der Berichtslasten findet sich in den Vorschlägen nicht.

Die EFRAG plant, die von ihr ausgearbeiteten ESRS nach Ablauf der Äußerungsfrist der EU-Kommission vorzulegen. Die EU-Kommission hat auf der Grundlage der von der EFRAG vorgelegten Ausarbeitungen nach Art. 49 Abs. 3a CSRD-E (2021) bzw. Art. 29b CSRD-E (2022) delegierte Rechtsakte zu erlassen.

2. Fragestellung und Vorgehen
Die CSRD sieht vor, dass die EU-Kommission die Berichtsstandards als delegierte Rechtsakte nach Art. 290 AEUV erlässt. Die EU-Kommission kann delegierte Rechtsakte nur wirksam erlassen, wenn sie sich innerhalb der sekundärrechtlichen Delegation bewegt und vorrangiges Primär- bzw. Sekundärrecht beachtet. Die nachfolgende Untersuchung beschäftigt sich einerseits mit der Frage, ob die von der EFRAG ausgearbeiteten Standards mit den Vorgaben des EU-Primärrechts vereinbar sind. Das EU-Primärrecht stellt Anforderungen auf, die die EU-Kommission beim Erlass delegierter Rechtsakte zu beachten hat, vor allem durch das Gebot primärrechtskonformer Interpretation der in der CSRD gewährten Kompetenz, darüber hinaus aber auch durch die Fixierung absoluter und nicht zu verschiebender Grenzen delegierter Rechtsetzung.

Die Untersuchung beschäftigt sich andererseits mit der Frage, inwieweit die von der EFRAG ausgearbeiteten ESRS den Anforderungen der CSRD-E (2021) bzw. CSRD-E (2022) entsprechen. Die EU-Kommission darf keine (von der EFRAG vorbereiteten) Standards im Rahmen delegierter Rechtsetzung erlassen, die sich nicht im Rahmen der ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 09.05.2023 15:41
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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