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Gemeinsame Einrichtungen im tarifpluralen Betrieb (Höpfner, ZFA 2023, ZFA0054161)

Die Auswirkungen des Tarifeinheitsgesetzes auf gemeinsame Einrichtungen sind weitgehend ungeklärt. Der Autor erörtert das Zusammenspiel von § 4a und § 4 Abs. 2 TVG und stellt die Verdrängung und die Nachzeichnung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen dar.

I. Einleitung
II. Verdrängung von Tarifnormen über gemeinsame Einrichtungen

1. Ausgangssituation: Geltung für sämtliche Rechtsnormen des Tarifvertrags
2. Der Rechtsnormcharakter von Tarifregelungen über gemeinsame Einrichtungen
a) Entstehungsgeschichte von § 4 Abs. 2 TVG
b) Funktionen der gemeinsamen Einrichtung
c) Flankierende schuldrechtliche Regelungen
d) Zwischenergebnis
3. Zwecke des § 4a TVG
a) Schutzfunktion des Tarifvertrags
b) Verteilungsfunktion des Tarifvertrags
c) Befriedungsfunktion des Tarifvertrags
d) Zwischenergebnis
4. Keine Einschränkung von § 4a Abs. 2 S. 2 TVG aus sonstigen Gründen
a) Keine Einschränkung aus verfassungsrechtlichen Gründen
b) Keine Einschränkung aus sozialpolitischen Gründen
c) Keine Einschränkung wegen Unmöglichkeit der Nachzeichnung
III. Reichweite der Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 S. 2 TVG
1. Verdrängung der Rechtsnormen über die Leistungs- und Beitragsbeziehung
2. Verdrängung der Rechtsnormen über die Binnenorganisation sowie der Satzung der gemeinsamen Einrichtung?
3. Verdrängung flankierender schuldrechtlicher Vereinbarungen
IV. Nachzeichnung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen
1. Nachzeichnung der Tarifnormen über die Leistungs- und Beitragsbeziehung
2. Nachzeichnung der Binnenorganisation der gemeinsamen Einrichtung
V. Fazit


I. Einleitung

Die durch das Tarifeinheitsgesetz vom Juli 2015 eingeführte Vorschrift des § 4a TVG führte in der Praxis zunächst einen Dornröschenschlaf. In den beiden Branchen, in denen Spartengewerkschaften eine besondere Bedeutung erlangen – dem Luft- und dem Schienenverkehr –, hatten Arbeitgeber und Gewerkschaften zunächst einen Burgfrieden geschlossen. Während dieser im Luftverkehr (noch) anhält, muss sich das Tarifeinheitsgesetz bei der Bahn nun bewähren, nachdem der zwischen dem für den Schienenverkehr zuständigen AGV MOVE und der GDL vereinbarte Tarifvertrag zur Regelung von Grundsatzfragen am 31.12.2020 ohne Nachwirkung endete. Inzwischen liegen erste Urteile zu § 4a TVG aus Berlin und Frankfurt vor.

Besonders interessant ist dabei die Entscheidung des ArbG Frankfurt vom 1.2.2022 zu der möglichen Verdrängung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung nach § 4a Abs. 2 S. 2 TVG. Das Urteil betrifft komplexe Grundsatzfragen der gemeinsamen Einrichtung im Tarifvertragsrecht und des Zusammenwirkens von § 4 Abs. 2 und § 4a TVG, die bislang im arbeitsrechtlichen Schrifttum kaum beachtet worden sind. Zugleich ist die Problematik von erheblicher Bedeutung für die Praxis, da in zahlreichen Betrieben im Konzern der Deutschen Bahn AG konkurrierende gemeinsame Einrichtungen tätig sind und eine etwaige Verdrängung eines der zugrunde liegenden Tarifverträge erhebliche Auswirkungen hätte.

II. Verdrängung von Tarifnormen über gemeinsame Einrichtungen

1. Ausgangssituation: Geltung für sämtliche Rechtsnormen des Tarifvertrags

Nach § 4a Abs. 2 S. 2 TVG sind im Fall einer Tarifkollision allein die Rechtsnormen des Mehrheitstarifvertrags anwendbar. Der Gesetzeswortlaut erfasst nicht nur Inhaltsnormen, sondern sämtliche Rechtsnormen des Tarifvertrags. Ausgenommen sind nach § 4a Abs. 3 TVG im Interesse der Kontinuität tarifvertraglich geschaffener betriebsverfassungsrechtlicher Vertretungsstrukturen lediglich Rechtsnormen über eine betriebsverfassungsrechtliche Frage nach § 3 Abs. 1 und § 117 Abs. 2 BetrVG, sofern der Mehrheitstarifvertrag die betreffende Frage nicht regelt. Weitere Einschränkungen sieht das Gesetz nicht vor. Schon aus diesem Grunde spricht viel dafür, dass die Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 S. 2 TVG – mit Ausnahme der in § 4a Abs. 3 TVG genannten Normen – sämtliche Rechtsnormen eines Tarifvertrags erfasst. Dementsprechend ist im Schrifttum anerkannt, dass zu den Rechtsnormen die in § 1 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 TVG genannten Inhalts‑, Abschluss- und Beendigungsnormen sowie Normen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen zählen. Ob auch tarifvertragliche Regelungen über gemeinsame Einrichtungen von § 4a Abs. 2 S. 2 TVG erfasst sind, ist hingegen umstritten und im Folgenden näher zu untersuchen.

2. Der Rechtsnormcharakter von Tarifregelungen über gemeinsame Einrichtungen
Für die Qualifikation von tarifvertraglichen Regelungen über gemeinsame Einrichtungen als Rechtsnormen spricht zunächst die amtliche Überschrift von § 4 TVG („Wirkung der Rechtsnormen“), die nicht zwischen den verschiedenen Absätzen der Vorschrift differenziert. In § 4 Abs. 2 TVG werden die Regelungen über gemeinsame Einrichtungen dagegen nicht ausdrücklich als „Rechtsnormen“ bezeichnet. Allerdings ordnet das Gesetz explizit ihre unmittelbare und zwingende Geltung an. Unmittelbar und zwingend gelten können lediglich Rechtsnormen, nicht aber schuldrechtliche Vereinbarungen. Die unmittelbare Wirkung durchbricht den Grundsatz der Relativität der Schuldverhältnisse und sorgt für eine Geltung der Tarifnormen im Arbeitsverhältnis auch ohne entsprechende Vereinbarung im Arbeitsvertrag. Die zwingende Wirkung ergänzt und verstärkt die Normwirkung dadurch, dass Tarifnormen sich – mit Ausnahme des Günstigkeitsprinzips – auch gegen abweichende arbeitsvertragliche Vereinbarungen durchsetzen. Dementsprechend bezeichnet man die unmittelbare und zwingende Tarifgeltung traditionell als „normative Wirkung“ des Tarifvertrags.

a) Entstehungsgeschichte von § 4 Abs. 2 TVG
Der Rechtsnormcharakter entspricht zudem der historischen Entwicklung des Tarifvertragsrechts. Während man Anfang des 20. Jahrhunderts noch versucht hatte, die Tarifgeltung schuldrechtlich zu begründen, bestand die wichtigste Innovation der TVVO von 1918 in der gesetzlichen Anordnung der normativen Tarifwirkung. Auch wenn die Verordnung den Begriff „Rechtsnorm“ noch nicht verwendete, ergab sich aus § 1 Abs. 1 S. 1 und 3 TVVO unzweifelhaft die normative Wirkung des Tarifvertrags, wie sie zuvor bereits in Sinzheimers Begriff des „Arbeitsnormenvertrags“ zum Ausdruck gekommen war.

Das TVG knüpfte inhaltlich an die Regelungen der TVVO an, präzisierte jedoch die Anordnung der unmittelbaren und zwingenden Tarifgeltung. Dass der Begriff „Rechtsnormen“ in § 4 TVG nur in Abs. 1 und nicht in Abs. 2 verwendet wird, ist keine inhaltliche Entscheidung des Gesetzgebers gegen den normativen Charakter von Regelungen über gemeinsame Einrichtungen, sondern eine dem historischen Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens geschuldete Zufälligkeit. Die gemeinsamen Einrichtungen wurden erst spät im Gesetzgebungsprozess aufgegriffen. Der „Lemgoer Entwurf“ des Zentralamts für Arbeit in der britischen Zone enthielt weder...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 25.04.2023 11:27
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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