Otto Schmidt Verlag

Aktuell im ArbRB

Die verschiedenen Ausprägungen des Betriebsbegriffs im Überblick - Was ist ein „Betrieb“ im Sinn des BetrVG, KSchG und des EU-Rechts? Zugleich Besprechung der Air-Berlin-Urteile des BAG (Jacobi/Krüger, ArbRB 2023, 80)

Der im Arbeitsrecht allgegenwärtige Begriff des Betriebs ist nicht legaldefiniert, sondern wird im BetrVG und KSchG jeweils vorausgesetzt sowie durch die Rechtsprechung des BAG definiert. Durch den immer stärkeren Einfluss des Europarechts ist nun ein weiteres unionsrechtliches Verständnis hinzugekommen. Die drei Versionen des Betriebsbegriffs haben Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die die Autoren unter Bezugnahme auf die aktuelle Rechtsprechung des BAG darstellen.

1. Die Verkennung des maßgeblichen Betriebsbegriffs bei „Air Berlin“
2. Auswirkungen der verschiedenen Betriebsbegriffe
3. Übersicht
4. Fazit



1. Die Verkennung des maßgeblichen Betriebsbegriffs bei „Air Berlin“
Die sog. Air-Berlin-Entscheidungen (BAG v. 13.2.2020 – 6 AZR 146/19, ECLI:DE:BAG:2020:130220.U.6AZR146.19.0, ArbRB 2020, 232 [Schewiola]; BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, ECLI:DE:BAG:2020:140520.U.6AZR235.19.0, ArbRB 2020, 294 [Groeger]; BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22, ArbRB 2023, 34 [Schewiola]) haben einer breiteren juristischen Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass der Betriebsbegriff der Massenentlassungsrichtlinie unionsrechtlich geprägt ist und nicht mit dem Betriebsbegriff des Betriebsverfassungsgesetzes und dem des Kündigungsschutzgesetzes übereinstimmt.

In der ersten Kündigungswelle bei der in Insolvenz befindlichen Air Berlin hatte dies fatale Folgen. Die erklärten Kündigungen, soweit sie rechtlich angegriffen waren, waren sämtlich unwirksam.

Zur Begründung verwies das BAG auf den unionsrechtlich geprägten Betriebsbegriff der Massenentlassungsrichtlinie (BAG v. 8.11.2022 – 6 AZR 15/22 Rz. 45, ArbRB online = ArbRB 2023, 34 [Schewiola]), so wie er in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes definiert wird (s. etwa EuGH v. 13.5.2015 – C-182/13, ECLI:EU:C:2015:317; EuGH v. 13.5.2015 – C-392/13, ECLI:EU:C:2015:318). Dieser Rechtsprechung hat sich das BAG unter der Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung (vgl. zuletzt BAG v. 25.4.2013 – 6 AZR 49/12 Rz. 149, ArbRB online) angeschlossen. Somit existieren nun – wenigstens – drei Betriebsbegriffe:

  • derjenige nach dem Betriebsverfassungsgesetz,
  • derjenige nach dem Kündigungsschutzgesetz sowie
  • derjenige nach der Massenentlassungsrichtlinie (RL 89/59/EG).

Der Betriebsbegriff des Betriebsübergangs nach § 613a BGB soll an dieser Stelle außen vor bleiben.

2. Auswirkungen der verschiedenen Betriebsbegriffe
Die Unterscheidung zwischen den drei Betriebsbegriffen ist praktisch von erheblicher Relevanz, etwa im Fall einer Reorganisation mit Kündigungen in einem Konzern mit einem oder mehreren Unternehmen und/oder mit mehreren Standorten/Filialen. Fehler bei einer Begriffsbestimmung können zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen.

Dabei definiert

  • der betriebsverfassungsrechtliche Betriebsbegriff das zuständige Gremium, etwa für die Anhörungen nach § 102 BetrVG und mögliche Verhandlungen über einen Interessenausgleich und Sozialplan nach §§ 111, 112 BetrVG (sowie die Konsultation nach § 17 KSchG),
  • das Kündigungsschutzgesetz, welche Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einzubeziehen sind, und
  • der Betriebsbegriff der Massenentlassungsrichtlinie die zuständige Agentur für Arbeit für die Massenentlassungsanzeige.

Beispiel
In der Praxis ist dies etwa für Einzelhandelsketten relevant: Ist der lokale Marktleiter zuständig für Personalfragen, können alle drei Betriebsbegriffe zum gleichen Ergebnis kommen. Wird hingegen die HR-Abteilung von einer Zentrale geleitet, können alle drei Varianten voneinander abweichen.

Der Umfang der anwendbaren Regelungen ist dabei abhängig von der jeweiligen Betriebsteilgröße und der lokalen Organisation.

Beraterhinweis
Die gesetzlichen Schwellenwerte sowie das jeweils unterschiedliche Verständnis des Betriebsbegriffs können Arbeitgeber auch nutzen, um aus ihrer Sicht geeignete betrieblichen Strukturen zu schaffen.

3. Übersicht
Die nachfolgende Übersicht beleuchtet zunächst die von der Rechtsprechung jeweils gefundene Definition auch vor dem Hintergrund des jeweiligen Gesetzeszwecks.

Sodann stellt sie die daraus folgenden Anforderungen an den örtlichen Leitungsapparat im Betrieb anhand von Beispielen dar.

Nachfolgend wird herausgearbeitet, dass die Fiktionswirkung des § 4 BetrVG für Betriebsteile und Kleinstbetriebe nur im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes wirkt, was insbesondere...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 31.03.2023 16:38
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

zurück zur vorherigen Seite