Otto Schmidt Verlag

LAG Sachsen v. 30.12.2022 - 1 Sa 87/22

Entstehen eines Anspruchs auf Entgeltzuschläge durch betriebliche Übung

Der Arbeitnehmer darf einer vom Betriebsübernehmer eingeführten Veränderung der Bezeichnung eines Zuschlags in den regelmäßigen Entgeltabrechnungen rechtsgeschäftlichen Erklärungswert beimessen.

Der Sachverhalt:
Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz über die Zahlung eines dem Kläger ab 1. Februar 2021 nicht mehr gewährten monatlichen Gehaltszuschlags. Seit 2010 zahlte die ASB … gGmbH dem Kläger für die elfte und zwölfte Stunde des Dienstes als Rettungssanitäter einen Zuschlag in Höhe von 65 % des Überstundensatzes. Diesen Zuschlag wies sie in den Lohn-/Gehaltsabrechnungen als „Bereitschaft AVR“ aus.

Zum 1.1.2015 ging das Arbeitsverhältnis des Klägers durch einen Betriebsübergang auf die Beklagte über. Diese zahlte den Lohnzuschlag für die elfte und zwölfte Stunde der Dienste unverändert weiter, wobei sie den Zuschlag nunmehr jeweils im Folgemonat für den vorausgegangenen Monat abrechnete und ihn den Entgeltabrechnungen unter dem Abschnitt „Zeitbezüge:“ jeweils als „Bereitschaftszuschlag 65%“ auswies.

Ab Februar 2021 stellte die Beklagte die Zahlung des Zuschlags für die elfte und zwölfte Stunde der vom Kläger verrichteten Dienste ein. Dies erläuterte sie wie folgt:

„Im Rahmen einer Software-Umstellung ist aufgefallen, dass versehentlich die Stunden einer Schicht, die 10 Stunden übersteigen, mit einer Bewertung von 65 % zur Auszahlung gebracht worden. Eine 12-Stunden-Schicht wurde also mit 10 Stunden ins Arbeitszeitkonto gerechnet und 2 Stunden wurden mit 65 % multipliziert und ausgezahlt. Diese Vorgehensweise deckt sich mit keiner Regelung ihres Tarifwerks.“

Der Kläger hat erstinstanzlich vorgetragen, zwei Stunden seiner 12-Stunden-Schichten seien als Bereitschaftszeit gezählt und seit vielen Jahren abweichend von den vertraglich vereinbarten AVR mit 65 % des Überstundensatzes vergütet worden.

Die Beklagte meint, der Kläger habe keinen Bereitschaftsdienst geleistet, sondern in seine Arbeitszeit falle in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft. Für Arbeitsbereitschaft sähen die Regelungen der AVR keinen Bereitschaftszuschlag vor. Die bisherigen Zahlungen der Beklagten hätten auf der (falschen) Annahme beruht, sie sei aufgrund der AVR dazu verpflichtet. Ein Anspruch aus betrieblicher Übung scheide aus, wenn sich die Leistung des Arbeitgebers aus der Sicht des Arbeitnehmers ausschließlich als Erfüllung eines vermeintlichen tarifvertraglichen Anspruchs darstelle.

Das ArbG wies die Klage auf Nachzahlung der Zuschläge ab. Die Berufung des Klägers vor dem LAG hatte Erfolg. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Die Gründe:
Die Klage ist in vollem Umfang begründet. Der Kläger hat einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf Zahlung der begehrten Zuschläge aus § 611a Abs. 2 BGB, wobei der vertragliche Anspruch durch konkludentes Verhalten der Parteien nach den Grundsätzen der betrieblichen Übung entstanden ist.

Eine dauerhafte Verpflichtung des Arbeitgebers kann sich aus betrieblicher Übung, mithin einem Verhalten mit Erklärungswert, ergeben. Unter betrieblicher Übung versteht man die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers, aus denen der Arbeitnehmer schließen kann, ihm solle eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer gewährt werden. Entscheidend ist dabei nicht, ob der Erklärende einen Verpflichtungswillen hatte, sondern ob der Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände gemäß der §§ 133, 157 BGB dahin verstehen konnte und durfte, der Arbeitgeber wolle sich zu einer über seine gesetzlichen, tarifvertraglichen oder vertraglichen Pflichten hinausgehende Leistung verpflichten. Da es auf den Empfängerhorizont ankommt, kann eine betriebliche Übung dann nicht entstehen, wenn der Arbeitgeber irrtümlich meinte, aufgrund einer Norm oder einer vertraglichen Abrede zur Zahlung verpflichtet zu sein und der Arbeitnehmer die Grundlagen des Irrtums erkannte.

Dabei trägt nicht der Arbeitgeber die Darlegungslast dafür, dass er für den Arbeitnehmer erkennbar irrtümlich glaubte, die betreffenden Leistungen in Erfüllung tarifvertraglicher oder sonstiger Rechtspflichten erbringen zu müssen. Vielmehr ist es Sache der klagenden Partei, die Anspruchsvoraussetzungen darzulegen. Dazu gehört im Falle der betrieblichen Übung auch die Darlegung, dass das Verhalten des Arbeitgebers aus Sicht des Empfängers ausreichende Anhaltspunkte dafür bot, der Arbeitgeber wolle Zahlungen erbringen, ohne hierzu bereits aus anderen Gründen - etwa aufgrund eines Tarifvertrags oder einer Betriebsvereinbarung verpflichtet zu sein (zur Darlegungs- und Beweislast vgl. BAG v. 19.2.2020 - 5 AZR 189/18).

Nach diesen Grundsätzen ist durch das vom Kläger dargelegte Verhalten der Beklagten nach dem 1.1.2015 ein Anspruch auf Zahlung der geltend gemachten Zulagen für die elfte und zwölfte Stunde der 12-Stunden-Dienste im Wege der betriebliche Übung entstanden. Auf die Frage, ob ein entsprechender Anspruch bereits im Verhältnis zwischen der ASB … gGmbH und dem Kläger entstanden ist, kommt es dabei nicht an.

Der Kläger durfte angesichts der veränderten Durchführung der Entgeltabrechnung und der andersartigen Mitteilung des Zahlungsgrundes sowie der ununterbrochenen Gewährung des Zuschlags seit dem Übergang des Arbeitsverhältnisses auf die Beklagte am 1.1.2015 nach Treu und Glauben davon ausgehen, die Beklagte wolle den „Bereitschaftszuschlag 65 %“ als freiwillige Leistung gewähren.

In den Lohnabrechnungen der Beklagten wird im Gegensatz zu denjenigen der Rechtsvorgängerin der Klägerin nicht mehr auf die bei Beginn des Arbeitsverhältnisses vereinbarten AVR Bezug genommen. Der Bezug zu früheren vertraglichen Regelungen, die nach § 613 a Abs.1 Satz 1 im Falle des Betriebsübergangs weitergelten, oder zu kollektiven Regelungen, die nach § 613 a Abs.1 Satz 2 BGB bei einem Betriebsübergang in arbeitsvertragliche Verpflichtungen transformiert werden, ist in den von der Beklagten erteilten Entgeltabrechnungen nicht mehr erkennbar.

Zweck der Entgeltabrechnung i.S.d. § 108 Abs.1 GewO ist die Herstellung von Transparenz; der Arbeitnehmer soll erkennen können, warum er gerade den ausgezahlten Betrag erhält. Der Kläger durfte deshalb darauf vertrauen, dass die Entgeltabrechnungen richtig und vollständig sind. Aus seiner Perspektive konnte er mangels Bezugnahme auf die arbeitsvertraglich vereinbarten AVR davon ausgehen, dass die Beklagte ab 1.1.2015 Bereitschaftszuschläge in der geltend gemachten Höhe für die elfte und zwölfte Stunde der Dienste als freiwillige Leistung zahlen wollte. Damit entstand der Anspruch auf die streitgegenständlichen Leistungen aufgrund betrieblicher Übung.

Der Kläger hat schließlich auch Anspruch auf die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, die streitgegenständlichen Zuschläge während des bestehenden Arbeitsverhältnisses auch in Zukunft zu entrichten.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Anspruch eines Rettungsassistenten auf Zahlung eines Zuschlags für Bereitschaftsdienstzeiten, für die bereits Arbeitsbefreiung gewährt wurde
LAG Köln vom 16.2.2018 - 4 SA 1069/16

Aktionsmodul Arbeitsrecht:
Für klare Verhältnisse sorgen: Mit den Inhalten der erstklassigen Standardwerken zum Arbeitsrecht. Bearbeiten Sie zahlreiche bewährte Formulare auch mit LAWLIFT. Selbststudium nach § 15 FAO. HWK und Tschöpe, ArbRB, ZFA und vieles mehr. Fachkundig aufbereitete Darstellungen und Analysen aller wichtigen Entscheidungen mit praxisorientierten Beraterhinweisen und Musterformulierungen. 4 Wochen gratis nutzen!
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 27.03.2023 15:18
Quelle: Justiz Sachsen online

zurück zur vorherigen Seite