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Gemeinwohlschranken des Arbeitskampfs und des Tarifvertrags - Zur Regelbarkeit und zur Erstreikbarkeit von pflegerischen Besetzungs- und Entlastungsregeln in Universitätsklinika (Thüsing/Bleckmann/Peisker, ZFA 2023, 60)

Im Lichte jüngster Tarifverhandlungen im Bereich der Universitätsklinika untersucht der Beitrag die Zulässigkeit von Tarifforderungen nach sog. quantitativen Besetzungsklauseln für Pflegekräfte. Insbesondere das Gemeinwohl wird als denkbare Schranke entsprechender Tarifabschlüsse betrachtet. Neben der Zulässigkeit der tariflichen Regelung steht auch die Zulässigkeit des hierauf gerichteten Arbeitskampfs im Fokus.

I. Worum es geht
II. Vorab: Gesetzliche Schranken der tarifvertraglichen Regelbarkeit

1. Die kraft Gesetzes geltenden Pflegepersonaluntergrenzen
2. Berücksichtigung der gesetzlichen Wertungen
III. Gemeinwohlschranken des Tarifvertrags
1. Gemeinwohl als deutungsoffene Matrix
2. Jedenfalls: Drittinteressen als Schranke der Tarifmacht
3. Zwischenfazit
4. Anwendung auf den konkreten Einzelfall
a) Universitätsklinika als Daseinsvorsorge und im Dienst des Gemeinwohls
aa) Gesetzliche Ausgangspunkte sowie Funktionen und Praktiken
bb) Ein zusammenfassender Rückblick
b) Gemeinwohlwidrigkeit der Regelungen
aa) Besetzungsregel als solche
bb) Gemeinwohlwidrigkeit der Besetzungsregel einschließlich ihrer Sanktionsmechanismen
(1) Gemeinwohlwidrigkeit der Verknappung der medizinischen Versorgung
(2) Gemeinwohlwidrigkeit der erhöhten finanziellen Belastung, insb. infolge von Zulagen
cc) Berücksichtigung von Forschung und Lehre sowie der Hochschulorganisation
5. Eine Ordnung der Ergebnisse
IV. Tariflich (freiwillig) regelbar, aber nicht erstreikbar?
V. Versuch einer Summa für den eiligen Leser



I. Worum es geht
Universitätsklinika sehen sich in steigender Häufigkeit Tarifforderungen nach einer verbindlichen Regelbesetzung ausgesetzt. Prominentes Beispiel aus jüngster Vergangenheit sind sicherlich die Verhandlungen zwischen der Berliner Charité sowie der Gewerkschaft ver.di, die sich mit Abschluss eines Tarifvertrages vom 15.12.2021 auf solche Entlastungen des Pflegepersonals einigen konnten. Aber auch an diversen anderen Universitätsklinika existieren bereits Verbands- oder Haustarifverträge sowie schuldrechtliche Vereinbarungen, die sich der Mindestbesetzung auf Stationsebene annehmen. Zwar differieren die einzelnen Regelungen inhaltlich, gemein ist jedoch allen: Eine Belastung des Personals aufgrund der Arbeitsintensität soll verringert werden.

Steht auf der Seite der Gewerkschaften die Hoffnung im Vordergrund, durch Besetzungs- und Belastungsausgleichsregelungen die Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verringern, um auf diese Weise Gesundheitsberufe insbesondere im Pflegebereich attraktiver zu gestalten sowie die Versorgung von Patienten zu verbessern, wächst auf Seiten der Universitätsklinika die Sorge, dass sich verpflichtende Mindestbesetzungsregelungen gegenteilig bemerkbar machen: Befürchtet wird eine Verschlechterung der Versorgungssituation und eine Beeinträchtigung der an Universitätsklinika durchgeführten Forschung und Lehre. Denn verfügbare Pflegekräfte sind auf dem deutschen Arbeitsmarkt rar. Bereits vor der Corona-Pandemie bestanden erhebliche Schwierigkeiten, qualifizierte Fachkräfte für die Tätigkeit im Krankenhaus zu gewinnen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Arbeitnehmer, die verfrüht aus ihrem Beruf ausscheiden. Die Corona-Pandemie hat dieses Leiden nunmehr deutlich verschärft. Je nach Höhe solcher Besetzungsregelungen ist die Möglichkeit einer Einhaltung der festgelegten Grenzen daher – so wird befürchtet – fraglich oder sogar von vornherein ausgeschlossen. Was bleibt sind Betten- oder Stationsschließungen, die Absage von Behandlungen oder die offene Missachtung der Besetzungsvorgaben. Letzteres führt – so zeigen dies bereits abgeschlossene Vereinbarungen zwischen ver.di und einigen Universitätsklinika – zu einer finanziellen Kompensation oder der Gewährung von Ausgleichsschichten, die wiederum eine weitere Verknappung der Versorgungssituation nach sich ziehen könnten.

Doch auch der Gesetzgeber hat erkannt, dass die Zahl der in der Pflege beschäftigten Personen mit dem wachsenden Bedarf nicht Schritt halten kann. Mit dem Pflegepersonal-Stärkungs-Gesetz wollte er daher spürbare Entlastungen im Alltag der Pflegekräfte bewirken und auch verbindliche Personaluntergrenzen im Bereich der pflegesensitiven Bereiche festlegen. Dies ist durch Schaffung der §§ 137i und 137j SGB V nunmehr geschehen. Die Forderungen der Gewerkschaft ver.di gehen jedoch über diese Untergrenzen hinaus und beschränken sich nicht nur auf pflegesensitive Bereiche.

Soweit Universitätsklinika als Arbeitgeber nun mittels Arbeitskampfmaßnahmen unter Druck gesetzt werden sollen, der tariflichen Vereinbarung verbindlicher Besetzungsuntergrenzen zuzustimmen, steht zwangsläufig die Frage der Zulässigkeit im Raum – Zulässigkeit der Kampfmaßnahmen, und dahinterstehend die Zulässigkeit einer dahingehenden tariflichen Regelung. Unklar ist insbesondere, ob und inwiefern die bezweckte Entlastung der beschäftigten Pflegekräfte Einschnitte in der Gesundheitsversorgung, in Forschung und Lehre und auch in der eigenständigen Organisation der Uniklinika rechtfertigen kann.

Die Fragestellung greift dabei strukturell weit über den Krankenhausbereich hinaus. Die GEW forderte jüngst im Arbeitskampf in Berlin: Kleinere Klassen! Obwohl dieses Ziel überaus wünschenswert ist, stellt sich auch hier die Frage, ob deswegen gestreikt werden kann. Berlins Regierende Bürgermeisterin sah den Warnstreik, zu dem die Gewerkschaft an Berliner Schulen aufgerufen hatte, kritisch. Frau Giffey wies auf die ukrainischen Flüchtlinge in Berlin hin, von denen 40 bis 50 Prozent Kinder und Jugendliche seien. Es brauche aktuell mehr Kapazitäten – und es sei eine Zeit des Lehrermangels. Also wie soll man dieses Ziel realisieren? Klar ist: Klassengrößen bestimmen die Arbeitsbedingungen von Lehrern, und Arbeitsbedingungen können in Tarifverträgen geregelt werden, und deshalb können sie grundsätzlich auch erstreikt werden. Aber das Streikrecht besteht nicht grenzenlos. Streik und Tarifvertrag sind Optionen in den Grenzen des Gemeinwohls. Dieses ist keine bloße regulative Idee, sondern konkrete Anforderung an das Handeln der Akteure. Die soziale Verantwortung der Koalitionen gegenüber der Allgemeinheit manifestiert sich, betrachtet man allein die arbeitsrechtliche Rechtsprechung, am deutlichsten im Arbeitskampf: „Arbeitskämpfe müssen ... unter dem obersten Gebot der Verhältnismäßigkeit stehen. Dabei sind die wirtschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, das Gemeinwohl darf nicht offensichtlich verletzt werden.“ stellte das BAG schon vor über einem halben Jahrhundert fest. Und was für den Weg zum Tarifvertrag gilt, das gilt – so scheint es – erst recht auch für den Tarifvertrag. Es darf sicherlich keine Tarifzensur dahingehend geben, dass die Gerichte die Tarifverträge und Streikforderungen danach sondern, was sie für sinnvoll und was sie nicht für sinnvoll halten. Aber auch für Deutschland gilt das, was Archibald Cox, einst Nestor des kollektiven Arbeitsrechts der Vereinigten Staaten, vor mehr als 70 Jahren festgestellt hat: „It would not be wise policy to pursue industrial peace at the expense of every other social or economic ideal.“

Die Rechtsfrage ist damit beschrieben, aber wie lautet die richtige Antwort? Die folgenden Zeilen machen sich auf die Suche. Bei der Beantwortung der dadurch aufgeworfenen Rechtsfragen ist schrittweise vorzugehen. Zunächst ist die Frage der tariflichen Regelbarkeit quantitativer Besetzungsklauseln im Krankenhaussektor mit hieran anknüpfenden Sanktionsmechanismen für den Fall der Nichterfüllung der Besetzungsschlüssel in den Blick zu nehmen (hierzu II.). Neben den subjektiven Rechten der beteiligten Tarifpartner als allgemeines – in diesem Beitrag vernachlässigtes – Abwägungskriterium sind die Auswirkungen quantitativer Besetzungsklauseln auf das Gemeinwohl und in diesem Lichte die Berücksichtigung von Gemeinwohlaspekten als Schranken der tariflichen Regelbarkeit zu erörtern (hierzu III.). Schließlich werden die Ergebnisse des ersten und zweiten Teils im Rahmen der Untersuchung, ob tariflich freiwillig regelbare Materien womöglich dennoch nicht erstreikbar sein können, zueinander in Bezug gesetzt. Die Ausführungen münden in den Versuch einer abschließenden Summa (V.).

II. Vorab: Gesetzliche Schranken der tarifvertraglichen Regelbarkeit
Am Anfang steht immer ein Blick auf das Gesetz: Formuliert dies mit seinen Vorgaben zur Besetzung nicht auch Grenzen für die Regelbarkeit im Tarifvertrag? Mit Einführung des § 137i SGB V im Zuge des Gesetzes zur Modernisierung der epidemiologischen Überwachung übertragbarer Krankheiten vom 17.7.2017 besteht nach Abs. 3 der Vorschrift die Möglichkeit, durch Rechtsverordnung des Bundesministerium für Gesundheit (BMG) feste Personaluntergrenzen festzulegen. Während § 137i SGB V die Verordnungskompetenz zunächst nur für sog. pflegesensitive Bereiche vorsah, hat der Gesetzgeber diese mit der Abfassung des § 137j SGB V auf Maßnahmen zur Verbesserung der Pflegepersonalausstattung in Bezug auf das gesamte Krankenhaus erstreckt.

1. Die kraft Gesetzes geltenden Pflegepersonaluntergrenzen
Das BMG hat von dieser Verordnungsermächtigung in Gestalt der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) Gebrauch gemacht. Diese schreibt für die in § 1 Abs. 2 PpUGV als pflegesensitiv aufgeführten Bereiche die nach § 6 PpUGV aufgelisteten Personaluntergrenzen verbindlich fest. Als pflegesensitive Leistungen werden in § 1 Abs. 2 PpUGV solche der Inneren Medizin, Geriatrie, Unfallchirurgie, allgemeinen Chirurgie, Orthopädie, Gynäkologie und Geburtshilfe, Kardiologie, Neurologie, allgemeinen Pädiatrie, pädiatrischen Intensivmedizin, speziellen Pädiatrie, neonatologischen Pädiatrie oder Herzchirurgie bestimmt. Für weitere, diesen nicht unterfallende Bereiche besteht – Stand heute – keine...



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 07.02.2023 16:05
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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