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Aktuell im ArbRB

"Europarechtliche Bedenken" als Allzweckwaffe im Kündigungsschutzprozess? - Eine kurze Bestandsaufnahme auf der Grundlage aktueller Fragestellungen (Lentz, ArbRB 2022, 308)

Im Kündigungsrechtsstreit sind schon erstinstanzlich nicht selten europarechtliche Fragen relevant. Wie wirkt sich z.B. die zu späte Umsetzung der Hinweisgeber-Richtlinie auf eine Kündigung aus? Welche Folgen hat das Fehlen des nach dem NachwG erforderlichen Hinweises auf § 7 KSchG? Und eröffnet die GRCh Spielräume, um die bisherige Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess zu kippen? Der Beitrag stellt anhand dieser drei aktuellen Beispiele die europarechtlichen Anknüpfungspunkte dar.

I. Einleitung
II. Europarechtliche Bedenken wegen einer nicht rechtzeitig umgesetzten Richtlinie (Beispiel: Hinweisgeberrichtlinie)

1. Praxishintergrund
2. Europarechtliche Einordnung
a) Vorfrage: Konkreter Regelungsinhalt?
b) Unmittelbare Geltung einer nicht umgesetzten Richtlinie?
c) Geltung durch richtlinienkonforme Auslegung?
d) Primärrechtliche Vorgabe aus der GRCh?
3. Bewertung
III. Europarechtliche Bedenken wegen einer unzureichend umgesetzten Richtlinie (Beispiel: Arbeitsbedingungen-Richtlinie)
1. Praxishintergrund
2. Europarechtliche Einordnung
a) Zusätzliche Spanungsfelder bei der unzureichend umgesetzten Richtlinie in Abgrenzung zur nicht umgesetzten Richtlinie
b) Auslegungsaspekt im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung
c) Primärrechtlich gebotenes Korrekturerfordernis?
3. Bewertung
IV. Europarechtliche Bedenken aufgrund EuGH-Entscheidungen mit Bezug zur Grundrechte-Charta (Beispiel: das „Überstunden-Urteil“ des Arbeitsgerichts Emden)
1. Praxishintergrund
2. Europarechtliche Einordung
a) Zusätzliche Heranziehung der GRCh als übergeordnetes Recht?
b) Art. 51 GRCh als Inhaltsgrenze
3. Bewertung
V. Gesamtbetrachtung und Ausblick


I. Einleitung

„In Vielfalt geeint“. Der Leitspruch der EU passt auch als Zielsetzung der 2009 in Kraft getretenen Europäischen Grundrechtecharta (GRCh). Mit hehren Zielen sind oft aber auch große Herausforderungen für die beteiligten Akteure verbunden. Für das Arbeitsrecht gilt nichts anderes.

Die so vor allem erstinstanzlich entstehenden Gestaltungsspielräume machen die Vorhersehbarkeit von Entscheidungen schwieriger, denn nationale Gesetzesregelungen wie auch bislang gefestigte obergerichtliche Rechtsprechungssätze könnten aufgrund eines Verstoßes gegen die GRCh ggf. schon in der ersten Instanz für obsolet erklärt werden. Eine zwingende Pflicht zur Vorlage an den EuGH oder BVerfG besteht nicht.

Die Rechtsprechung des EuGH bietet auf den zweiten Blick inzwischen ein etwas konturierteres Bild. Welche Entscheidungsspielräume im Einzelnen für die nationalen Gesetzgeber und Fachgerichte bestehen und wie der EuGH seine Rolle im Verhältnis zu den jeweiligen nationalen Verfassungsgerichten und zum EGMR definiert, war bereits Gegenstand verschiedener Entscheidungen.

Auch wenn die Antworten im Einzelfall stets von den jeweils betroffenen Grundrechten, der jeweiligen Richtlinie und – vor allem – vom nationalen Umsetzungsakt abhängen, sind die Ausgangsfragen oft dieselben. Häufig lässt sich daher anhand dieser bereits grob abschätzen, ob die pauschal behaupteten „europarechtlichen Bedenken“ ernsthaft verfangen.

II. Europarechtliche Bedenken wegen einer nicht rechtzeitig umgesetzten Richtlinie (Beispiel: Hinweisgeberrichtlinie)

1. Praxishintergrund

Mit der sog. Hinweisgeberrichtlinie hat die EU einen Rahmen für den Schutz von Hinweisgebern geschaffen, die Missstände aus ihrem betrieblichen Umfeld zur Anzeige bringen.

Beraterhinweis
Das BAG entscheidet hier bislang im Generalklausel-Spannungsfeld zwischen (arbeitnehmerseitigen) Treuepflichtverletzungen und (arbeitgeberseitigen) Verstößen gegen das Maßregelungsverbot. Danach kann ein fehlender innerbetrieblicher Hinweis ein Indiz für eine unverhältnismäßige Reaktion sein. Er ist daher nur ausnahmsweise vor einer Anzeige entbehrlich.

Art. 10 RL 2019/1937/EU schreibt nunmehr für den Hinweisgeber alternativ fest, dass diese

„Informationen über Verstöße (...) melden, nachdem sie zuerst über interne Meldekanäle Meldung erstattet haben, oder indem sie direkt über externe Meldekanäle Meldung erstatten.“

Die besondere Ausgestaltung dieser externen Kanäle findet sich sodann in den Vorgaben von Art. 11 ff. RL 2019/1937/EU.

Beraterhinweis
Die Richtlinie war bis zum 17.12.2021 in nationales Recht umzusetzen. Auch ein Dreivierteljahr später ist dies noch nicht final erfolgt. Für Kündigungen stellt sich nunmehr bis zum Inkrafttreten des neuen Hinweisgeberschutzgesetzes die Frage, ob ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 25.10.2022 16:03
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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