Otto Schmidt Verlag

Thüringer LAG v. 29.6.2022 - 4 Sa 212/21

Unwirksame Kündigung trotz grober Beleidigungen

Einzelfall einer unwirksamen außerordentlichen Kündigung wegen grober Beleidigungen des Vertretungsorgans der Arbeitgeberin und von Kolleg*innen, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Klägerin aufgrund vorheriger menschenunwürdiger Arbeitsbedingungen (verschimmelter Kellerraum, 11 Grad Celsius, Mäuse, Mäusekot) der Blick für die Bedeutung ihrer Äußerungen verstellt gewesen sein könnte. Deshalb war hier eine Abmahnung nicht von vornherein aussichtslos und daher nicht entbehrlich.

Der Sachverhalt:
Das LAG hat eine fristlose Kündigung für unwirksam erklärt. Trotz grober Beleidigungen der Arbeitnehmerin sei eine vorherige Abmahnung wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls nicht entbehrlich gewesen. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Die Gründe:
Die Berufung ist unbegründet. Die Kündigung hat das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst, weil sie mangels vorheriger Abmahnung unverhältnismäßig und deshalb nicht wirksam ist.

Die zentrale Begründung der Berufung ist, dass die von ihr geschilderten beleidigenden Äußerungen der Klägerin dermaßen gravierend gewesen seien, dass sie Straftaten darstellten und es der Klägerin hätte klar sein müssen, dass sie, die Beklagte, dies nicht so hinnehmen und deshalb das Arbeitsverhältnis beenden werde. Dem folgt die Kammer hier im Ergebnis nicht.

Es kann offen bleiben, ob die als beleidigend titulierten Äußerungen der Klägerin über den Geschäftsführer der Beklagten und die Kolleginnen grundsätzlich geeignet sind, im Normalfall eine Kündigung ohne vorherige Abmahnung zu rechtfertigen. Hier kann aufgrund besonderer Umstände, die im Wesentlichen die Beklagte zu vertreten hat, nicht festgestellt werden, dass der Klägerin klar gewesen sein muss, die Beklagte würde dieses Verhalten nicht hinnehmen, und dass auszuschließen wäre, die Klägerin hätte nach einem entsprechenden Hinweis mit Kündigungsandrohung ihr Verhalten nicht umgestellt und die restliche Zeit des Arbeitsverhältnisses störungsfrei bewältigt.

Nachdem die Klägerin rechtskräftig im Rechtsstreit über die Kündigung aus dem Jahr 2016 obsiegt hatte, musste sie nach ihrer Rückkehr ins Arbeitsverhältnis zunächst in einem verschimmelten und verdreckten Keller bei 11 Grad Celsius arbeiten. Sie musste sich auch offensichtlich unstreitige Ansprüche wie Urlaubsentgelt erstreiten. Später musste sie von ihrem Büro aus über den Hof gehen und schwere Unterlagen tragen, um die ihr angewiesenen Archivarbeiten zu bewältigen, obschon es einen weniger anstrengenden Zugang zum Archiv gegeben hätte. Die Klägerin hat diese Situation als erniedrigend und schikanös empfunden und fühlte sich von einigen Kollegen schlicht „ausgelacht“.

In einer solchen Situation kann nicht ausgeschlossen werden und ist eher naheliegend, dass einem*r Arbeitnehmer*in der Blick dafür verstellt ist, welche Bedeutung es hat, wenn er*sie sich in der behaupteten Art ggü. einer ehemaligen Kollegin über die Arbeit, die Vorgesetzten und Kolleg*innen äußert. Aufgrund dieser besonderen Situation steht nicht mit der für eine Entscheidungsfindung erforderlichen Sicherheit fest, dass eine Abmahnung nicht den gewünschten Effekt gezeitigt hätte.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 27.09.2022 10:27
Quelle: Justiz Thüringen online

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