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Aktuell im ArbRB

Anscheinsbeweis bei Übersendung einer Kündigung mittels Einwurf-Einschreiben - Aktuelle Entwicklungen in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zum Zugang von Kündigungsschreiben (ArbRB 2022, Tiedemann, 125)

Ob und wann ein Kündigungsschreiben zugegangen ist, ist oft streitig. Die Zustellung kann auch mittels Einwurf-Einschreibens erfolgen. Unter bestimmten Voraussetzungen und in Anlehnung an eine bislang wenig beachtete Entscheidung des BGH geht die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung dabei zunehmend von einem Anscheinsbeweis für den Zugang aus. Der Beitrag beleuchtet die Entwicklungslinien, Kernargumente und prozessualen Konsequenzen.

1. Was passiert bei einem Einwurf-Einschreiben?
2. Was sind die Voraussetzungen für einen Anscheinsbeweis?
3. Beweis des Zugangs des Einwurf-Einschreibens

a) Einlieferungsbeleg
b) Vorlage des Sendungsstatus
c) Einlieferungsbeleg und Sendungsstatus
d) Einlieferungsbeleg und Reproduktion des Auslieferungsbelegs
4. Fazit


1. Was passiert bei einem Einwurf-Einschreiben?

Beim Einwurf-Einschreiben  erhält der Absender von der Deutschen Post AG  bei Abgabe in einer Filiale zunächst einen sog. Einlieferungsbeleg mit einer unverwechselbaren Sendungsnummer. Sodann erfolgt die Auslieferung mit der „normalen“ Tagespost durch Einwurf der Sendung in den Briefkasten oder das Postfach des Empfängers. Unmittelbar vor dem Einwurf zieht der Postangestellte das sog. „Peel-off-Label“ (Abziehetikett), das zur Identifizierung der Sendung dient, von dieser ab und klebt es auf den so vorbereiteten, auf die eingeworfene Sendung bezogenen Auslieferungsbeleg. Auf diesem Beleg bestätigt der Postmitarbeiter nach dem Einwurf mit seiner Unterschrift und der Datums- und Uhrzeitangabe die Zustellung.  Der gefertigte Auslieferungsbeleg wird in einem Lesezentrum zentral für Deutschland eingescannt; dann wird das Original vernichtet.

Auf Wunsch erhält der Absender beim Einwurf-Einschreiben – neben einer telefonischen Auskunft beim Kundenservice oder dem im Internet abrufbaren Sendungsstatus  – gegen ein Entgelt  eine Reproduktion des elektronisch archivierten Auslieferungsbelegs.  Das Einwurf-Einschreiben bietet damit den Vorteil, dass es den genauen Zeitpunkt, zu dem ein Schriftstück in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dokumentiert bzw. dokumentieren kann.

2. Was sind die Voraussetzungen für einen Anscheinsbeweis?
Nach dem in § 286 Abs. 1 ZPO verankerten Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist ein Beweis nicht erst als erbracht anzusehen, wenn eine absolute, über jeden denkbaren Zweifel erhabene Gewissheit vorliegt. Vielmehr genügt es, wenn der Richter einen brauchbaren Grad der Gewissheit von der zu beweisenden Tatsache erlangt hat.  Wenn allerdings ein sog. Vollbeweis nicht möglich ist, kommt ggf. ein Indizienbeweis in Betracht. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH greift der sog. Beweis des ersten Anscheins (prima facie) bei typischen Geschehensabläufen ein, also in Fällen, in denen ein bestimmter Tatbestand nach der (allgemeinen) Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweist. Diese Schlussfolgerung setzt eine Typizität eines Geschehensablaufs voraus, was bedeutet, dass der Kausalverlauf so häufig vorkommen muss, dass die Wahrscheinlichkeit eines solchen Falles sehr groß ist. Streitig ist regelmäßig, ob ein entsprechender Erfahrungssatz aufgestellt werden kann.

3. Beweis des Zugangs des Einwurf-Einschreibens
Ob Einwurf-Einschreiben geeignet sind, den Zugang eines Schriftstücks zu beweisen, ist seit dessen Einführung vor über 20 Jahren streitig. Nahezu unstreitig ist allerdings, dass die Belege einschl. des Sendungsstatus der Deutschen Post AG über die Ein- und Auslieferung eines Einwurf-Einschreibens keine öffentliche Urkunden i.S.d. § 415 Abs. 1, § 418 Abs. 1 ZPO darstellen, die den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen erbringen und nur durch den Beweis der Unrichtigkeit entkräftet werden würden.  Die Deutsche Post AG ist seit ihrer Privatisierung keine öffentliche Behörde und sie handelt – bezogen auf Einwurfeinschreiben – nicht als beliehener Unternehmer. Hinzu kommt, dass beim Auslieferungsbeleg das Original vernichtet wird und dem Absender nur ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 26.04.2022 17:39
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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