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Rechtsscheinhaftung beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen (Wietfeld, ZFA 2022, 72)

Betriebsvereinbarungen werden als schuldrechtliche Verträge geschlossen, gelten aber normativ für die Arbeitsverhältnisse eines Betriebs. Durch die gesetzlich angeordnete normative Wirkung entstehen beim Abschluss derartiger Vereinbarungen Konflikte mit den allgemeinen Regelungen über das Zustandekommen von Rechtsgeschäften. Der nachfolgende Beitrag beleuchtet eines dieser Probleme – die Frage, ob eine Betriebsvereinbarung mit Hilfe von Rechtsscheingrundsätzen wirksam abgeschlossen werden kann, obwohl der Betriebsrat bei ihrem Abschluss durch seinen Vorsitzenden vertreten wird, dessen Tätigwerden nicht durch einen Betriebsratsbeschluss legitimiert ist.

I.    Einführung
II.    Anwendung der Grundsätze über die Anscheinsvollmacht

1.    Grundlagen der Differenzierung
2.    kritische Betrachtung
III.    Anwendung der Grundsätze über die Duldungsvollmacht
IV.    Anwendung der allgemeinen Grundsätze

1.    Uneingeschränkte Anwendung
2.    Einschränkung der Rechtsfolgen
V.    Gedanken zur Übertragungsmöglichkeit der allgemeinen Grundsätze
1.    Rechtsfolgen von Versäumnissen des Betriebsrats bei der Ausübung von Beteiligungsrechten
2.    Legitimation als Rückbindung an den Willen der Belegschaft
3.    Gedanke des Vertrauensschutzes als Grundlage der Rechtsscheinhaftung
VI.    Vergleich mit anderen Anwendungsfällen von Rechtsscheinvollmachten
1.    Duldungsvollmacht bei nicht bestehender Prokura
2.    Einschränkungen der Rechtsscheinhaftung in anderen Bereichen
a)    Rechtsscheinvollmacht trotz gesetzeswidriger Bevollmächtigung
b)    Rechtsscheinvollmacht zulasten der öffentlichen Hand
3.    Abschluss von Betriebsvereinbarungen durch den Gesamtbetriebsrat und Beauftragung des Betriebsausschusses
a)    Anforderungen an die Übertragung nach § 50 Abs. 2 S. 1 und § 27 Abs. 2 S. 2 BetrVG
b)    Schriftform als besonderes Erfordernis
c)    Sinn und Zweck des Schriftformerfordernisses
VII.    Grundlage einer Rechtsscheinhaftung: Sinn und Zweck des Beschlusserfordernisses und Vertrauensschutz
VIII.    Anforderungen an den Rechtsscheintatbestand

1.    Auftreten des Betriebsratsvorsitzenden als Anknüpfungspunkt
2.    Rechtsschein eines ordnungsgemäßen Beschlusses
a)    Fehlerhafter Beschluss als Anknüpfungspunkt
b)    Nach außen erkennbare Zustimmung als Anknüpfungspunkt
3.    Zurechenbarkeit des Rechtsscheins
IX.    Konsequenzen


I. Einführung

Betriebsvereinbarungen werden als Vertrag zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat geschlossen. Das Zustandekommen der Vereinbarung unterliegt daher grundsätzlich den allgemeinen Regelungen über den Abschluss von Rechtsgeschäften nach dem BGB. Allerdings stehen die Art des Zustandekommens der Betriebsvereinbarung und ihre darauf gegründete Rechtsnatur als Vertrag in einem gewissen Spannungsverhältnis zu ihren Rechtswirkungen, die § 77 Abs. 4 BetrVG regelt. Anders als bei anderen privatrechtlichen Verträgen, fallen „Regelungsurheber“ und „Regelungsadressat“ bei der Betriebsvereinbarung typischerweise zumindest teilweise auseinander.  Die Betriebsvereinbarung ist aufgrund der unmittelbaren und zwingenden Wirkung, die ihr kraft Gesetzes zukommt, eine Fremdbestimmungsordnung. Dies kann sich auf ihren Abschluss auswirken und eine Modifikation der grundsätzlich anwendbaren Regelungen über den Abschluss von Rechtsgeschäften erforderlich machen. Ausgehend von den allgemeinen Grundsätzen zu Rechtsscheinvollmachten ist zu fragen, inwieweit diese auf das Betriebsverfassungsrecht übertragbar sind, wenn der Betriebsratsvorsitzende für den Betriebsrat handelt, ohne hierzu durch einen entsprechenden Beschluss ermächtigt worden zu sein.

Nach § 26 Abs. 2 S. 1 BetrVG vertritt der Betriebsratsvorsitzende den Betriebsrat im Rahmen der von ihm gefassten Beschlüsse. Dies wird als Vertretung „in der Erklärung, nicht im Willen“ bezeichnet  und hat zum Hintergrund, dass eine wirksame Vertretung des Betriebsrats durch den Vorsitzenden einen entsprechenden Betriebsratsbeschluss voraussetzt. Erklärungen des Betriebsratsvorsitzenden, die nicht von einem Betriebsratsbeschluss gedeckt sind, sind grundsätzlich unwirksam. In Rechtsprechung und Literatur ist weitgehend anerkannt, dass auf das Handeln des Betriebsratsvorsitzenden darüber hinaus die Grundsätze der Rechtsscheinhaftung anwendbar sind. Nur Einzelne lehnen die Geltung der Rechtsscheingrundsätze per se ab. Nach überwiegend vertretener Ansicht sind Erklärungen eines Vorsitzenden, die nicht von einem entsprechenden Betriebsratsbeschluss gedeckt sind, dennoch wirksam, wenn die Grundsätze der Rechtsscheinvollmacht zu einer entsprechenden Legitimation führen. Obwohl die Geltung der Rechtsscheingrundsätze überwiegend anerkannt ist, sind die Einzelheiten hierzu noch ungeklärt. Das BAG hat sich bislang nicht mit Detailfragen zu diesem Problem befassen müssen. Es gibt zwar Entscheidungen, in denen das Gericht allgemein von der Geltung der Rechtsscheingrundsätze ausgeht. In den entsprechenden Sachverhalten waren die Voraussetzungen für eine Anwendung dieser Grundsätze aber jeweils schon dem Grunde nach nicht gegeben. In der Literatur herrscht Uneinigkeit über die Details der Anwendbarkeit. Dies betrifft insbesondere zwei Aspekte: Zunächst wird uneinheitlich beurteilt, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit eine Rechtsscheinvollmacht des Betriebsratsvorsitzenden gegeben ist, und ferner ist deren Reichweite unklar.

II. Anwendung der Grundsätze über die Anscheinsvollmacht
Einige Stimmen in der Literatur befürworten eine Anwendung der Grundsätze über die Anscheinsvollmacht, lehnen die Übertragung der Grundsätze der Duldungsvollmacht auf die Konstellation des Handelns des Betriebsratsvorsitzenden ohne entsprechenden Betriebsratsbeschluss dagegen ab.

1. Grundlagen der Differenzierung
Von einer Duldungsvollmacht ist in der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre auszugehen, wenn jemand im Namen eines anderen für diesen rechtsgeschäftlich tätig wird und der Vertretene dieses Tätigwerden kennt und duldet. Hierbei handele es sich um eine stillschweigend erteilte Vollmacht. Eine solche Vollmachtserteilung ist im Betriebsverfassungsrecht unzulässig. Der Betriebsrat kann nicht stillschweigend ohne Beschlussfassung eine legitimierende Entscheidung treffen. Er ist ein Kollegialorgan und trifft als solches seine Entscheidungen durch Beschluss. Auf diese Weise vollzieht er seine Willensbildung. Dem liefe eine stillschweigende Beschlussfassung zuwider. Betriebsratsbeschlüsse müssen vielmehr nach ordnungsgemäßer Ladung aller Betriebsratsmitglieder im Rahmen einer Betriebsratssitzung gefasst werden. Ein wirksamer Beschluss erfordert nach § 33 Abs. 1 S. 1 BetrVG eine Mehrheit der Stimmen der anwesenden Mitglieder. Um dem zu genügen, muss eine Abstimmung erfolgen, d.h. die einzelnen Mitglieder müssen eine Stimme abgeben. Das Erfordernis einer Stimmabgabe verlangt zwar keine bestimmte Form, aber ein Tätigwerden der Betriebsratsmitglieder und schließt dadurch eine stillschweigende Beschlussfassung aus.

Damit eine Anscheinsvollmacht gegeben ist, muss eine andere Person (über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholt) als Vertreter eines anderen aufgetreten sein. Aufseiten des Vertretenen setzt das Eingreifen der Rechtsscheingrundsätze nach ständiger Rechtsprechung zudem voraus, dass die vertretene Person das Auftreten des Handelnden nicht positiv kennt, es allerdings bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte erkennen können. Dadurch werden an das Wissen des Vertretenen niedrigere Anforderungen gestellt als bei der Duldungsvollmacht, bei der es erforderlich ist, dass der Vertretene ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 13.04.2022 09:05
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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