Otto Schmidt Verlag

Aktuell in der ZFA

Umfang und Grenzen der Kollektivautonomie (Stöhr, ZFA 2021, 364)

Berichtet wird über ausgewählte Entscheidungen des BAG im Jahr 2020 zum Tarifvertragsrecht, zur betrieblichen Mitbestimmung sowie zur Unternehmensmitbestimmung.


I. Tarifvertragsrecht

1. Verhältnis des Tarifvertrags zu rangniedrigeren Regelungen

a) Verhältnis zu Betriebsvereinbarungen

b) Verhältnis zum Arbeitsvertrag

2. Grenzen der Tarifmacht

a) Regelungskompetenz in Bezug auf gemeinsame Einrichtungen

b) Benachteiligung von Schwerbehinderten bei Altersteilzeitverträgen

aa) Sachverhalt

bb) Gang der Entscheidung

cc) Einordnung und Würdigung

c) Unionsrechtskonformität von Mehrarbeitszuschlägen

aa) Sachverhalt und Gang der Entscheidung

bb) Würdigung

II. Betriebliche Mitbestimmung

1. Betriebsratswahl: Anfechtung wegen Fehler bei der Öffnung der Freiumschläge

a) Sachverhalt und Gang der Entscheidung

b) Würdigung

2. Betriebsvereinbarung

a) Betriebsvereinbarung mit Zustimmungsquorum

aa) Sachverhalt und Gang der Entscheidung

bb) Einordnung

cc) Würdigung

b) Zur Geltung einer Konzernbetriebsvereinbarung nach Ausscheiden eines Unternehmens aus dem
    Konzern

aa) Sachverhalt und Gang der Entscheidung

bb) Einordnung und Würdigung

3. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats

a) Verhältnis der betrieblichen Mitbestimmung zur gewerkschaftlichen Betätigung

aa) Sachverhalt und Gang der Entscheidung

bb) Würdigung

b) Mitbestimmungsrecht eines unternehmensübergreifenden Gesamtbetriebsrats hinsichtlich eines
    Twitter- Accounts

III. Unternehmensmitbestimmung: Wahl- und Sitzgarantie der Gewerkschaften nach Umwandlung in
     eine SE

1. Rechtlicher Hintergrund

2. Sachverhalt und Gang der Entscheidung

3. Bestandsschutz für die Wahl- und Sitzgarantie?

4. Vereinbarkeit eines Bestandsschutzes mit dem Unionsrecht?

IV. Fazit


I. Tarifvertragsrecht

Im Tarifvertragsrecht stand 2020 die Stellung des Tarifvertrags in der arbeitsrechtlichen Normenpyramide im Mittelpunkt, also die Wirksamkeit von tariflichen Regelungen im Verhältnis zu rangniedrigeren Regelungen (Betriebsvereinbarung, Arbeitsvertrag) und ranghöheren Regelungen (Gesetz, Verfassung, Unionsrecht). Auch die internen Grenzen der Tarifmacht (Art. 9 Abs. 3 GG, § 1 Abs. 1 TVG) wurden behandelt.

1. Verhältnis des Tarifvertrags zu rangniedrigeren Regelungen

a) Verhältnis zu Betriebsvereinbarungen


Das Verhältnis des Tarifvertrags zu Betriebsvereinbarungen ist in § 77 Abs. 3 BetrVG dahingehend geregelt, dass den Betriebsparteien bereits die Kompetenz fehlt, Betriebsvereinbarungen über Arbeitsentgelte oder sonstige (üblicherweise) tarifvertraglich geregelten Arbeitsbedingungen zu schließen, sofern der Tarifvertrag keine ergänzenden Betriebsvereinbarungen zulässt. Solche Öffnungsklauseln werden häufig empfohlen, um den Betriebsparteien gerade in wirtschaftlich schlechten Zeiten eine größere Flexibilität einzuräumen. Das BAG hat nun entschieden, dass Änderungen einer solchen Betriebsvereinbarung an die (nachträgliche) Zustimmung der Tarifparteien geknüpft werden können. Dies setzt die Rechtsprechung fort, dass die Zulassung von ergänzenden Betriebsvereinbarungen mit bestimmten Maßgaben versehen und spezifisch ausgestaltet sein kann. Dafür spricht, dass die Tarifparteien von Öffnungsklauseln gänzlich absehen und die Kompetenz der Betriebsparteien völlig ausschließen können, weshalb sie erst recht die Möglichkeit haben müssen, beschränkte Öffnungsklauseln unter Zulassung einer begrenzten Kompetenz der Betriebsparteien zu vereinbaren. Dass eine nachträgliche Genehmigung der Tarifparteien auf den Zeitpunkt des Abschlusses der Änderung zurückwirkt, stellt keine unzulässige Rückwirkung dar, wie die allgemeine Regel des § 184 Abs. 1 BGB zeigt.

b) Verhältnis zum Arbeitsvertrag

Im Hinblick auf das Verhältnis des Tarifvertrags zum Arbeitsvertrag hat das BAG die Möglichkeit der Tarifparteien verneint, die vereinbarten tariflichen Inhaltsnormen von einer vertraglichen Bezugnahme der tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien auf die für den Arbeitgeber jeweils gültigen Tarifverträge abhängig zu machen. Eine solche arbeitsvertragliche Nachvollziehung von Tarifverträgen als Anspruchsvoraussetzung sei gem. § 134 BGB unwirksam, da sie die gesetzlich angeordnete unmittelbare Wirkung der tarifvertraglichen Normen (§ 4 Abs. 1 TVG) sowie das Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG) umgehe. Dies fügt sich in die Rechtsprechung des Senats zur Rechtssetzungsbefugnis der Tarifparteien ein, etwa zur Vertragsauslegung oder zu Spannenklauseln. Aber auch in rechtlicher Hinsicht überzeugt die Entscheidung, da die arbeitsvertragliche Nachvollziehung eine dem Gesetz fremde Voraussetzung für die unmittelbare Wirkung darstellt und der nach dem Günstigkeitsprinzip erforderliche Sachgruppenvergleich durch eine endgültige Entscheidung zwischen den tariflichen und den bisherigen vertraglichen Regelungen verdrängt wird.

Entgegen der Ansicht des LAG Hessen stehen diese gesetzlichen Prinzipien nicht zur Disposition der Tarifparteien. Für eine Abdingbarkeit könnte zwar ähnlich wie bei der Ausgestaltung von Öffnungsklauseln sprechen, dass die Tarifparteien auch von einem Tarifvertrag gänzlich absehen und den tarifgebunden Arbeitsvertragsparteien damit noch weniger geben könnten als Tarifnormen, die unter einem arbeitsvertraglichen Bestätigungsvorbehalt stehen. Dieser Vergleich verbietet sich jedoch: (...)



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 08.09.2021 09:32
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

zurück zur vorherigen Seite