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Grundfragen der Arbeitszeit (Franzen, ZFA 2022, 455)

Der Beitrag unternimmt den Versuch, verschiedene Funktionen der Arbeitszeit herauszuarbeiten, und spricht sich auf dieser Basis für unterschiedliche Arbeitszeitbegriffe je nach Regelungskontext aus. Auf dieser Grundlage werden die für die Regulierung der Arbeitszeit geeigneten Regelungsebenen untersucht. Diese sieht Verfasser weniger im Unionsrecht, als vielmehr im innerstaatlichen Recht und dort stärker auf der tariflichen/betrieblichen Ebene.

A. Einleitung
B. Interessenanalyse

I. Arbeitgeber
II. Arbeitnehmer
C. Funktionen der Arbeitszeit
I. Begrenzungsfunktion
1. Bedeutung der Arbeitszeit für den Arbeitsvertrag
2. Absolute und relative Dimension der Begrenzungsfunktion der Arbeitszeit
II. Bewertungsfunktion
1. Grundsätze
2. Grenzen der Bewertungsfunktion der Arbeitszeit bei der Vereinbarung von Überstunden
3. Funktion der Arbeitszeit bei der Ermittlung von absoluten und relativen Lohnuntergrenzen (MiLoG, Lohnwucher nach § 138 BGB)
4. Fazit
III. Erfüllungsfunktion der Arbeitszeit
1. Grundsätze
2. Einzelfragen
a) Zusammenhangstätigkeiten (Vor- und Nachbereitungshandlungen)
aa) Umkleidezeiten
bb) Wegezeiten
b) Intensität der Arbeitsanspannung
c) Sonstige Handlungen (Reisen, Fortbildung)
IV. Erstes Zwischenfazit
D. Regelungsebene
I. Unionsrecht
1. Historische Entwicklung des EU-Arbeitszeitrechts
a) Die Vorgängerrichtlinie 93/104/EG
b) Änderung im Jahr 2000 durch die Richtlinie 2000/34/EG
2. Grundkonzeption der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG: Verbindliche Vorgaben für Ruhezeiten für den jeweiligen Arbeitszeitraum mit Öffnungsklauseln für die Mitgliedstaaten
a) Verbindliche Vorgaben für Mindestruhezeiten bezogen auf den jeweiligen Arbeitszeitraum (Kapitel 2, Art. 3–7 RL 2003/88)
b) Zulässigkeit von Abweichung zugunsten der Mitgliedstaaten und/oder Sozialpartner (Art. 17 ff. RL 2003/88/EG)
c) Beispiel: Rechtssache „Union syndicale Solidaires Isère“ 14.10.2010 – C-428/09
d) Fazit
3. Der Begriff der Arbeitszeit nach Art. 2 Nr. 1 RL 2003/88/EG
a) Einzelne Sprachfassungen der Richtlinie
aa) Deutsch
bb) Englisch
cc) Französisch
dd) Andere Sprachfassungen
b) Folgerungen: Begriffsbildung des Art. 2 Nr. 1 und 2 RL 2003/88/EG hinsichtlich Arbeitszeit und Ruhezeit ist misslungen
c) Rechtsprechung des EuGH: Auf dem Weg zu einem funktionsübergreifenden europäischen Arbeitszeitbegriff?
4. Folgerungen: Plädoyer für die Abschaffung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG
a) Rechtspolitische Argumente
b) Rechtliche Problematik: Unionsrechtliche Zulässigkeit einer Abschaffung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG
5. Ergebnis
II. Innerstaatlicher Regelungsrahmen
III. Branchen- und unternehmensbezogene Regelungsebene
E. Zusammenfassende Thesen


A. Einleitung

Die Frage nach der Arbeitszeit berührt eine der Grundfragen des Arbeitsrechts überhaupt, nämlich die Frage: Was ist (abhängige) Arbeit? Nach der Rechtsprechung des BAG ist „Arbeit jede Tätigkeit, die als solche der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient.“ Diese Definition stellt allerdings nur eine erste Annäherung an die Problematik dar. Hinsichtlich des Begriffes der Arbeitszeit hat sich die Unterscheidung eines arbeitszeitrechtlichen, vergütungsrechtlichen und betriebsverfassungsrechtlichen Arbeitszeitbegriffs eingebürgert. Das BAG legt allerdings weithin den arbeitszeitrechtlichen Arbeitszeitbegriff zugrunde, wenn sich aus den sonstigen anwendbaren Rechtsgrundlagen keine eigenständige Regelung der Arbeitszeit ergibt. Außerdem hängen Zeit und Raum zusammen. Deshalb muss man stets auch den Ort der Arbeitsleistung mit bedenken, wenn man sich der Frage nach der Arbeitszeit nähern möchte.

Das Arbeitszeitrecht im engeren Sinn, wie es insbesondere im ArbZG niedergelegt ist, dient vor allem dem Schutz von Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer. Dies sagt § 1 Nr. 1 ArbZG klar; und dies sieht auch die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG ausweislich ihres Erwägungsgrundes genauso. Arbeitswissenschaftlich ist seit langem anerkannt, dass die Aufmerksamkeit von Menschen nachlässt, wenn sie sehr lange intensiv mit Tätigkeiten beansprucht werden; daraus können Unaufmerksamkeit, Unfälle und sonstige Gesundheitsgefahren resultieren. Eine zu lange Beanspruchung der Arbeitnehmer am Stück muss also vermieden werden. Darüber hinaus dient das Arbeitszeitrecht auch der Abgrenzung von persönlicher und beruflicher Sphäre und damit dem Schutz der freien Verfügung über die Zeit, in welcher der Arbeitnehmer nicht dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen muss.

Dem Thema „Grundfragen der Arbeitszeit“ möchte ich mich folgendermaßen nähern: Zunächst werde ich die insoweit bestehenden verschiedenen Interessen – Arbeitgeber, verschiedene Arbeitnehmergruppen – analysieren (unter B). Danach frage ich, was der Begriff der Arbeitszeit leisten muss (unter C). Anschließend (unter D) werde ich die hierfür geeigneten Regelungsebenen betrachten – Unionsrecht (D I), mitgliedstaatliche Regelungsebene (D II) sowie die branchen- und unternehmensbezogene Regelungsebene (D III).

B. Interessenanalyse

I. Arbeitgeber

Das Arbeitszeitrecht ist von Zielkonflikten geprägt: Auf der Seite der Unternehmen steht das Bedürfnis, Arbeitnehmer möglichst flexibel nach eigenen Zwecken einsetzen zu können. Außerdem hat ein verständiger Arbeitgeber auch ein eigenes Interesse daran, dass die Arbeitnehmer nicht aus Gründen der Überdehnung der Arbeitszeit überlastet werden und damit fehleranfällig arbeiten, woraus Arbeitsunfälle und infolgedessen Arbeitsausfälle, Entgeltfortzahlungskosten sowie unter Umständen höhere Beiträge des Arbeitgebers zur Unfallversicherung resultieren können. Diese Interessenlage wird vom ArbZG im Ausgangspunkt akzeptiert: Nach § 1 Nr. 1 ArbZG dient das Gesetz der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer sowie dazu, die Rahmenbedingungen für flexible Arbeitszeiten zu verbessern.

II. Arbeitnehmer
Auf der Seite der Arbeitnehmer ist die Interessenlage disparater. So kann es Arbeitnehmergruppen geben, welche ebenfalls ein Bedürfnis nach flexibler Gestaltung ihrer Arbeitszeit haben. Das zeigt sich beispielsweise bei Arbeitnehmern mit Unterhaltspflichten, etwa gegenüber Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen, also bei Arbeitnehmern, die gleichzeitig noch Sorgearbeit leisten müssen. Solche Arbeitnehmer benötigen stabile und stetige Arbeitsbeziehungen mit einem festen Anteil freier Zeit und einem hohen Maß an Zeitsouveränität bei unvorhersehbaren Situationen, um sowohl Arbeitspflichten nachkommen als auch die erforderliche Sorgearbeit leisten zu können. Diese Anforderungen sind nicht gleichbedeutend mit flexiblen Arbeitszeiten, bei denen sich das Ausmaß der Flexibilität in erster Linie aus dem Interesse des Unternehmens heraus definieren lässt. Diese Interessenlage auf Seiten der Arbeitnehmer hat beispielsweise die Richtlinie (EU) 2019/1158 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige vom 20.6.2019 aufgegriffen.

Von solchen Besonderheiten bestimmter Arbeitnehmergruppen abgesehen, kann man grob gesprochen zwei Arbeitnehmergruppen nach dem Kriterium der Angewiesenheit auf einen bestimmten Ort für die Arbeitserbringung unterscheiden: Arbeitnehmer, die ihre Tätigkeit grundsätzlich ortsungebunden (= mobil) unter Zuhilfenahme von Kommunikations- und/oder Arbeitsmitteln erbringen können, und Arbeitnehmer, die an bestimmten vorgegebenen Ort(en) arbeiten müssen, zumeist weil sie eng in eine Organisation eingebunden sind. Vielleicht produziert die sich entwickelnde digitale Arbeitswelt eine derartige neue Dichotomie der Arbeitnehmerschaft – vergleichbar dem Begriffspaar Arbeiter/Angestellter aus der industriellen Arbeitswelt. Es geht also im Grundsatz um die Frage, welche Arbeitnehmer können prinzipiell „mobil“ und im sog. „Homeoffice“ arbeiten? Bei dieser Gruppe der Arbeitnehmer befindet sich der Arbeitsplatz gewissermaßen überwiegend oder durchweg dort, wo sich der Arbeitnehmer aufhält, weil die Arbeit regelmäßig durch Kommunikations- oder Arbeitsmittel zu bewältigen ist, die dem Arbeitnehmer zur Verfügung stehen. Bei der anderen Gruppe muss sich der Arbeitnehmer gewissermaßen an seinen Arbeitsplatz, den Ort der Arbeitsleistung, begeben, er kann nicht von sich aus – autonom – arbeiten.

Die Ortsgebundenheit der Arbeit erscheint also als das entscheidende Kriterium für eine mögliche Spaltung der Interessenlage auf Arbeitnehmerseite im Hinblick auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitszeit: Wer jedenfalls partiell ortsungebunden arbeiten kann, mag größeres Interesse an autonomer Gestaltung seiner Arbeitszeit haben als derjenige der in einer ortsgebundenen Organisation tätig sein muss und bei dem sich die Arbeitszeit im wesentlichen mit der Anwesenheitszeit in dieser Organisation deckt. Allerdings bedarf es auch für die erstgenannte Gruppe trotz oder gerade wegen der durch die Digitalisierung vorangetriebenen zunehmenden Vermischung von Privatem und Beruflichem der klaren Abgrenzung von Arbeit und Freizeit.

C. Funktionen der Arbeitszeit
Was muss der Begriff der Arbeitszeit leisten?

I. Begrenzungsfunktion

1. Bedeutung der Arbeitszeit für den Arbeitsvertrag

Der Arbeitszeit kommt im Arbeitsverhältnis zunächst die Funktion zu, den Umfang der vom Dienstnehmer/Arbeitnehmer geschuldeten Leistungspflicht zu bestimmen. Dies ergibt sich aus der Struktur des Dienstvertrags in Abgrenzung zum Werkvertrag. Beim Werkvertrag wird der Umfang der vom Unternehmer geschuldeten Leistungshandlungen durch das Werk gekennzeichnet, dessen Errichtung der Unternehmer schuldet. Der Dienstvertrag zeichnet sich dadurch aus, dass der zur Dienstleistung Verpflichtete eine Tätigkeit zusagt. Einer Tätigkeit als solcher ist aber keinerlei Begrenzung immanent; sie kann grundsätzlich ununterbrochen und unbegrenzt ausgeübt werden. Dies trifft vor allem dann zu, wenn sich...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 29.11.2022 16:22
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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