Otto Schmidt Verlag

Aktuell in der ZFA

Abgrenzungsfragen der Arbeitszeit – Zugleich Vorschlag für Anpassungen des Arbeitszeitgesetzes (Rudkowski, ZFA 2022, 510)

Die Arbeitsrechtswissenschaft diskutiert die Anpassung des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) an die durch die Digitalisierung verschwimmenden Grenzen von Arbeit und Freizeit. Das in der Pandemie zum Trend gewordene Homeoffice hat diese Frage noch einmal drängender werden lassen, und auch der Gesetzgeber will nun tätig werden. Der Beitrag untersucht, wie das ArbZG im bestehenden unionsrechtlichen Rahmen geändert werden könnte.

I. Einleitung
II. Mindestruhezeit (§ 5 Abs. 1 ArbZG)

1. Arbeit in der Ruhezeit
a) Bagatellarbeit als Arbeit
b) Bagatellarbeit als „aufgedrängte Arbeit“
c) Kein Neuanlaufenlassen der Ruhezeit
d) Zwischenergebnis
e) Flexibilisierung durch Tarifverträge
aa) Gestaltungsoptionen der Tarifparteien de lege lata
bb) Verkürzung der Ruhezeit de lege ferenda
2. Ständige Erreichbarkeit
III. Höchstarbeitszeit (§ 3 S. 1 ArbZG)
1. Aufgabe des Acht-Stunden-Tages
2. Eingeschränkter Schutz von autonomen Arbeitnehmern
a) Ausnahme für leitende Angestellte (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG)
b) Geringeres Schutzbedürfnis autonomer Arbeitnehmer
c) Regelungsoptionen für autonome Arbeitnehmer
3. Flexibilisierung durch Tarifvertrag
IV. Zusammenfassung


I. Einleitung

Arbeit sei ein „uraltes, viel merkwürdige seiten darbietendes Wort“, befanden die Gebrüder Grimm bereits in ihrem Wörterbuch aus dem Jahr 1854, 1 und heute, unter dem Eindruck der Digitalisierung, ist dieser Befund aktueller denn je: Die Verbreitung von Laptop, Smartphone und Tablet ermöglicht es Teilen der Arbeitnehmerschaft, praktisch jederzeit und von jedem Ort aus zu arbeiten. Die Arbeit wird mobil, die Grenzen von Arbeit und Freizeit ZFA 2022, 511verschwimmen. Die Covid-19-Pandemie hat diesen Trend noch einmal verstärkt: Zwischenzeitlich waren ca. 27 % der deutschen Beschäftigten im Homeoffice tätig.

Das ArbZG, das aus dem Jahr 1994 stammt, verlangt jedoch nach einer klaren Abgrenzung von Arbeit und Freizeit oder, rechtlich gesprochen, von Arbeitszeit und Ruhezeit. Ob der Arbeitnehmer die – zwingenden – gesetzlichen Vorgaben zur täglichen Höchstarbeitszeit von acht Stunden (§ 3 S. 1 ArbZG), seine Ruhepausen (§ 4 ArbZG) oder seine Mindestruhezeit von ununterbrochenen elf Stunden (§ 5 Abs. 1 ArbZG) eingehalten hat, lässt sich nur beurteilen, wenn die neuen Erscheinungsformen von Arbeit in das gesetzliche Schema von Arbeitszeit und Ruhezeit eingeordnet werden. Das Gesetz selbst versteht Arbeitszeit als „die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen“ (§ 2 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 ArbZG) und verwendet damit – wenig aussagekräftig – das Definiendum im Definiens. Der so kaum eingegrenzte Begriff erlaubt keine Rückschlüsse etwa darauf, ob Arbeit vorliegt, wenn der Arbeitnehmer rund um die Uhr für den Arbeitgeber erreichbar ist, oder wie damit umzugehen ist, wenn ein Arbeitnehmer, obgleich eigentlich im Feierabend, zu Hause noch einmal dienstliche E‑Mails bearbeitet.

Im Fokus der arbeitsrechtlichen Diskussion steht diese „Entgrenzung“ von Arbeit spätestens seit dem Deutschen Juristentag 2016. In dieser Legislaturperiode will nun die Regierungskoalition „die Wünsche von Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und Unternehmen nach einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung“ aufgreifen. Der Gesetzgeber muss sich hierbei nicht nur an die Vorgaben der europäischen Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) halten, deren Umsetzung das ArbZG dient, sondern auch bedenken, dass die Arbeitnehmerschaft in Deutschland keineswegs eine homogene Gruppe mit gleichlaufenden (Flexibilisierungs-) Interessen ist. Regelungsoptionen des deutschen Gesetzgebers im bestehenden unionsrechtlichen Rahmen beleuchtet der folgende Beitrag.

II. Mindestruhezeit (§ 5 Abs. 1 ArbZG)
Als besonders konfliktreich beschreibt die Literatur das Verhältnis von moderner Arbeitswelt und ununterbrochener elfstündiger Mindestruhezeit (gem. § 5 Abs. 1 ArbZG). Schon auf dem Deutschen Juristentag 2016 erfuhr es viel Aufmerksamkeit, 8 denn die Mindestruhezeit kann durch ständige Erreichbarkeit des Arbeitnehmers (sub 2.), aber auch durch Arbeit nach Feierabend (sub 1.) gefährdet sein.

1. Arbeit in der Ruhezeit
Die Digitalisierung ermöglicht es, nach dem eigentlichen Feierabend (im Betrieb) noch von Zuhause oder unterwegs aus zu arbeiten. Vor allem zwei Phänomene finden sich in der Praxis: Das der kurzen Unterbrechung der Ruhezeit, wenn etwa vor dem Schlafengehen noch einmal die E‑Mails „gecheckt“ werden, und das der Verteilung der Arbeitszeit in größeren Abschnitten über den Tag hinweg. Dieses Modell bietet vor allem für Arbeitnehmer mit familiären Betreuungsverpflichtungen Vorteile, wenn sie etwa bis zum frühen Nachmittag arbeiten, den Nachmittag mit den Kindern verbringen und nach dem Abendritual an den heimischen Schreibtisch zurückkehren. Endet indes die Arbeitszeit um 22 Uhr, darf in Anwendung des § 5 Abs. 1 ArbZG die Arbeit am nächsten Morgen erst um 9 Uhr wieder aufgenommen werden.

Während von der Literatur zurecht nicht infrage gestellt wird, dass die Verteilung der Arbeitszeit über den Tag hinweg dann rechtswidrig ist, wenn sie zu einer Unterschreitung der elfstündigen Mindestruhezeit führt, wird für die andere hier beschriebene Konstellation, die sog. Bagatellarbeit (wie etwa das kurze E‑Mail-Bearbeiten nach Feierabend), in der Literatur der Versuch unternommen, sie mit § 5 Abs. 1 ArbZG in Einklang zu bringen.

a) Bagatellarbeit als Arbeit
Da bereits eine einmalige Unterbrechung durch Arbeit die Ruhezeit vollständig neu anlaufen lässt, wollen Teile der Literatur „geringfügige Unterbrechungen“ der Ruhezeit, etwa ein kurzes E‑Mail-Checken, aus dem Arbeitsbegriff des § 2 Abs. 1 ArbZG ausklammern. Die sog. Bagatellarbeit soll nicht als Arbeit i.S.d. Gesetzes anzusehen sein.

Wann genau eine Unterbrechung „Bagatellarbeit“ ist, versucht das Schrifttum unterschiedlich zu umschreiben. So gehe es um geringfügige Unterbrechungen mit „geringen geistigen und körperlichen Anforderungen“, die den Arbeitnehmer...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 08.11.2022 15:09
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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