Otto Schmidt Verlag

Aktuell in der ZFA

Verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz und das Mindestlohnerhöhungsgesetz (Schorkopf, ZFA 2022, 308)

Im Mittelpunkt des Beitrags steht eine verfassungsrechtliche Beurteilung der von der Bundesregierung angestrebten Erhöhung des allgemeinen Mindestlohns auf brutto 12 € je Zeitstunde zum 1.10.2022. Es wird diskutiert, erstens, welche Auswirkungen die Mindestlohnerhöhung auf bestehende Tarifverträge haben wird. Das geplante Mindestlohnerhöhungsgesetz ruft als rückwirkendes Gesetz das Bestandsvertrauen der Bürger „in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte“ auf. Es geht, zweitens, um das betätigte Autonomievertrauen der Arbeitgeberseite in den vom geltenden Mindestlohngesetz nachgebildeten quasi-tarifautonomen Rahmen und Prozess der Mindestlohnfindung. Die Sozialpartner haben einen verfassungsrechtlichen Anspruch aus Art. 9 Abs. 3 GG auf Schutz ihres Autonomievertrauens in die Systementscheidung des Gesetzgebers für eine quasi-tarifautonome Logik der Mindestlohnanpassung. Dieses Autonomievertrauen ist auf die Einhaltung des institutionellen Rahmens des Mindestlohngesetzes und den Schutz der Tarifautonomie vor negativen Rückwirkungseffekten gerichtet.

A. Sachverhalt
I. Das Mindestlohngesetz
II. Geplante Mindestlohnerhöhung auf 12 €
III. Entwurf zur Mindestlohnerhöhung
IV. Fragestellung
B. Stellungnahme
I. Maßstab
1. Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie
2. Grundsatz des Vertrauensschutzes
a) Verfassungsrechtliche Herleitung
b) Bestandsvertrauen
c) Autonomievertrauen
II. Subsumtion
1. Autonomievertrauen in quasi-tarifautonome Mindestlohnfindung
a) Systementscheidung durch Mindestlohngesetz
b) Doppelte Verletzung des Anpassungspfades
c) Negative Wechselwirkung mit Tarifautonomie
2. Bestandsvertrauen in geltende Tarifverträge
a) Verkürzte Anpassungsperiode durch Inkrafttreten zum 1.10.2022
b) Fehlende Übergangsregelung über den 31.12.2022 hinaus
c) Rekonstruktion des Zitiergebots
3. Zwischenergebnis
C. Ergebnis


A. Sachverhalt

I. Das Mindestlohngesetz

Mit Inkrafttreten des Artikelgesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie am 1.1.2015 hat der Bundesgesetzgeber erstmals einen allgemeinen Mindestlohn für die Bundesrepublik eingeführt. Jeder Arbeitnehmer hat seitdem einen Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts wenigstens in Höhe des Mindestlohns durch den Arbeitgeber. So steht es in § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz – MiLoG), das der zentrale Teil des Tarifautonomiestärkungsgesetzes ist.

Als amtliches Ziel des Mindestlohngesetzes verweist der Gesetzgeber darauf, die „Tarifautonomie zu stärken und angemessene Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherzustellen.“ Die Tarifvertragsparteien könnten die ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG überantwortete Ordnung des Arbeitslebens nur noch unter strukturell erschwerten Bedingungen leisten, weil die Arbeitswelt sich in einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft zunehmend fragmentiere. Dass sich die Ordnung des Arbeitslebens in den letzten Jahren verschlechtert habe, macht der Gesetzgeber an der rückläufigen Zahl von Tarifverträgen fest. Diesen generellen Befund bricht der Gesetzgeber in der Begründung des Gesetzentwurfs aus dem Jahr 2014 für die Entlohnung darauf herunter, dass die Beschäftigung in Deutschland zu niedrigen Löhnen in den vergangenen Jahren zugenommen habe. Besonders im Bereich einfacher Tätigkeiten seien die Tarifvertragsparteien oftmals nicht mehr selbst in der Lage, Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Löhnen zu schützen. Die Arbeit aller Menschen sei wertzuschätzen. An anderer Stelle der Gesetzesbegründung verweist der Gesetzgeber darauf, mit dem Mindestlohn einen Beitrag zu fairen und funktionierenden Wettbewerbsbedingungen sowie zur Stabilität der sozialen Sicherungssysteme leisten zu wollen.

Die Begriffe „Wertschätzung“ und „soziale Sicherheit“ deuten darauf hin, dass mit dem Mindestlohngesetz zumindest mittelbar auch das Ziel der Sicherung des sozio-ökonomischen Existenzminimums und einer „selbstverdienten“, d.h. zuschussfreien Altersversorgung verfolgt wird. In den Debatten über den allgemeinen Mindestlohn und seine gesetzliche Durchsetzung ist dieses sozialpolitische Motiv für das Mindestlohngesetz und besonders die angezeigte Höhe eines bedarfssichernden Mindestlohns präsent. Diese Debatte wird von der in internationalen Prägeräumen ventilierten Idee des „living wage“ unterfüttert, wonach „alle Beschäftigten ein Recht auf einen Mindestlohn haben sollen, der über das physische Existenzminimum hinaus eine soziale und kulturelle Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht.“

Der Mindestlohn ist vom Gesetzgeber zum Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes auf brutto 8,50 € je Zeitstunde festgesetzt worden. Die Gesetzesbegründung nennt als Motiv für diesen Stundenlohn ein pauschaliertes Existenzminimum als Monatseinkommen oberhalb der Pfändungsfreigrenze für einen alleinstehenden Vollzeitbeschäftigten bei durchschnittlicher Wochenarbeitszeit.

Mit Ablauf einer Übergangsfrist zum 31.12.2017 dürfen branchenspezifische Mindestlöhne diesen gesetzlichen Mindestlohn nicht mehr unterschreiten. Allerdings sieht das Mindestlohngesetz eine Änderung der Lohnhöhe durch Rechtsverordnung der Bundesregierung auf Vorschlag einer ständigen Kommission der Sozialpartner, der Mindestlohnkommission, vor. Entscheidend ist, dass die Bundesregierung allein den konkreten Vorschlag der Mindestlohnkommission – die neben Erhöhungen auch Senkungen vorsehen könnte – verbindlich machen kann. Eine Änderung des Vorschlags ist nicht möglich. Die Bundesregierung könnte allein vom Erlass einer Rechtsverordnung absehen, so dass die geltende Höhe des Mindestlohns unverändert bliebe (§ 1 Abs. 2, § 9 Abs. 1 MiLoG).

Bei der Mindestlohnkommission handelt es sich um ein gesetzlich errichtetes Gremium (§§ 4 ff. MiLoG), das alle fünf Jahre neu berufen wird. Die Kommission besteht aus einem Vorsitzenden und sechs weiteren stimmberechtigten Mitgliedern, für die jeweils die Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer das Vorschlagsrecht haben. Der Vorsitzende wird grundsätzlich auf gemeinsamen Vorschlag der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite berufen und kann bei einer Nichteinigung der stimmberechtigten Mitglieder durch Stichentscheid den Ausschlag geben. Zwei Wissenschaftler werden als ständige beratende, d.h. stimmrechtslose Mitglieder wiederum jeweils auf Vorschlag der Sozialpartner berufen. Die Kommission folgt in Besetzung und Verfahren erkennbar Regeln der paritätischen Mitbestimmung des kollektiven Arbeitsrechts. Alle Mitglieder sind ehrenamtlich tätig und unterliegen keinen Weisungen. Die Beratungen sind vertraulich. Beschlüsse sind schriftlich zu begründen. Die in der ersten Amtsperiode der Kommission angenommene Geschäftsordnung (§ 10 Abs. 3 Satz 3 MiLoG), die weitere Verfahrensregeln enthält, ist in der zweiten Amtsperiode bislang nicht wieder in Kraft gesetzt worden.

Die Mindestlohnkommission hat seit der Arbeitsaufnahme mehrfach – und stets konsensual – die Erhöhung des Mindestlohns vorgeschlagen. Die Bundesregierung hat diese Vor- ZFA 2022, 311schläge jeweils übernommen und mittels Rechtsverordnung verbindlich gemacht. So stieg der Mindestlohn zum 1.1.2017, dem gesetzlich festgelegten Datum der erstmaligen Anpassung der Mindestlohnhöhe, auf 8,84 €; zum 1.1.2019 erfolgte eine Erhöhung auf 9,19 €. Ein Jahr später folgte eine Erhöhung auf 9,35 € zum 1.1.2020. Mitte des Jahres 2020 hat die Mindestlohnkommission für den Zeitraum ab 1.1.2021 eine vierstufige Erhöhung jeweils in Halbjahresschritten auf...



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 10.08.2022 09:17
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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