Otto Schmidt Verlag

ArbG Heilbronn v. 18.5.2022 - 2 Ca 60/22

Zustandekommen des Aufhebungsvertrags: Verstoß gegen das Gebot des fairen Verhandelns

In besonderen Fallkonstellationen kann der Arbeitgeber gehalten sein, dem Arbeitnehmer nach der Vorlage eines Aufhebungsvertrages eine Bedenkzeit einzuräumen, um nicht gegen das Gebot des fairen Verhandelns zu verstoßen. Mit der Einräumung einer solchen Bedenkzeit korreliert auch eine entsprechende Hinweispflicht des Arbeitgebers. Dies gilt insbesondere bei erkennbaren intellektuellen Schwächen des Arbeitnehmers.

Der Sachverhalt:
Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit eines am 18.2.2022 geschlossenen Aufhebungsvertrages, welcher das streitgegenständliche Arbeitsverhältnis zum 31.5.2022 beenden soll.

Der Intelligenzquotient des Klägers ist weit unterdurchschnittlich. Er besuchte lediglich eine Sonderschule; eine Ausbildung konnte er nicht abschließen. Bei dem Personalgespräch am 18.2.2022 wurde dem Kläger neben dem Aufhebungsvertrag gleichzeitig eine Abmahnung ausgehändigt. Diese betraf zwei Tage im Januar, an denen der Kläger nicht zur Arbeit erschienen sein soll.

Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte habe dabei seine mangelnden intellektuellen Fähigkeiten willentlich und wissentlich ausgenutzt. Er sei davon ausgegangen, dass man ihn wegen des Fehlens an den zwei Tagen im Januar abmahnen wollte und man ihm gleichzeitig eine Kündigung ausgehändigt habe. Mit dieser Vorgehensweise habe die Beklagte gegen das Gebot des fairen Verhandelns verstoßen.

Das ArbG hat der Klage auf Feststellung des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses des Klägers über den 31.5.2022 hinaus stattgegeben. Die Berufung wurde gesondert zugelassen.

Die Gründe:
Das streitgegenständliche Arbeitsverhältnis ist durch den Aufhebungsvertrag vom 18.2.2022 nicht beendet worden. Vorliegend liegt ein schuldhafter Verstoß der Beklagten gegen das Gebot des fairen Verhandelns vor, was zu einer Rechtsunwirksamkeit des Aufhebungsvertrages und damit zu einer Fortsetzung des ursprünglichen Arbeitsvertrages zu unveränderten Bedingungen führt.

Das Zustandekommen des Aufhebungsvertrages vom 18.2.2022 verstößt gegen das vom BAG entwickelte Gebot des fairen Verhandelns, welches in den §§ 311 Abs. 2 Nr. 1, 241 Abs. 2 BGB in der Gestalt einer bei der Aufnahme von Vertragsverhandlungen bestehenden Nebenpflicht seine gesetzliche Normierung gefunden hat (BAG v. 7.2.2019 - 6 AZR 75/18).

Denn die Beklagte hat vorliegend die intellektuelle Schwäche des Klägers ausgenutzt, um zum Abschluss des Aufhebungsvertrages zu gelangen. Dabei ist es auch nicht entscheidungserheblich, ob der Kläger in der Lage gewesen ist, den Sinn der streitgegenständlichen Aufhebungsvereinbarung zu erfassen. Die den Abschluss des Aufhebungsvertrags begleitenden Umstände, die Sozialdaten des Klägers und seine Konstitution führen vielmehr dazu, dass die Beklagte in der vorliegenden Konstellation den Kläger zumindest hätte darauf hinweisen müssen, dass er berechtigt ist, den Abschluss des Aufhebungsvertrages außerhalb der Räumlichkeiten der Beklagten für eine gewisse Zeit nochmals zu überdenken. Dies hätte dem Kläger auch die Möglichkeit eröffnet, ihm nahestehende Außenstehende bzgl. des Entwurfs und seiner Unterzeichnung um Hilfe zu bitten.

Des Weiteren hat die Kammer aber auch die Begleitumstände des Zustandekommens des streitgegenständlichen Aufhebungsvertrags beachtet. In besonderem Maße wirkt sich dabei für die Beklagte negativ aus, dass dem Kläger zusammen mit dem bereits unterschriebenen Aufhebungsvertrag eine Abmahnung übergeben wurde, deren Empfang der Kläger durch seine Unterschrift bestätigte. Dabei betrifft die Abmahnung Vorfälle, bzgl. derer die Beklagte zuvor signalisiert hatte, dass sie diese nicht mehr für kündigungsrechtlich relevant hält. Es ist also kein Grund erkennbar, warum sie dem Kläger den Aufhebungsvertrag gemeinsam mit der Abmahnung ausgehändigt hat, außer dem, dass die Beklagte unter bewusstem Ausnutzen der fehlenden intellektuellen Fähigkeiten des Klägers den Abschluss des Aufhebungsvertrags forcieren wollte. Dabei kann dahinstehen, ob die Schwelle des § 123 Abs. 1 BGB vorliegend durch das Verhalten der Beklagten bereits überschritten worden ist, da die Beklagte zumindest gegen das Gebot des fairen Verhandelns verstoßen hat.

Unter Berücksichtigung der vorherigen Gesichtspunkte und der langen Betriebszugehörigkeit des Klägers hätte die Beklagte den Kläger auf eine gewisse Bedenkzeit hinweisen müssen, um das Gebot des fairen Verhandelns zu wahren. Durch das Unterlassen drängt sich für die Kammer die Vermutung auf, dass die Beklagte die intellektuelle Schwäche des Klägers bewusst ausnutzte, um den Abschluss des Aufhebungsvertrages zu erreichen. Dies führt vorliegend zu einer schuldhaften Verletzung des Gebots des fairen Verhandelns.

Der Verstoß gegen das Gebot des fairen Verhandelns führt vorliegend zu einer Rechtsunwirksamkeit des Aufhebungsvertrages und damit zu einer Fortsetzung des ursprünglichen Arbeitsvertrages zu unveränderten Bedingungen.

Die gesonderte Zulassung der Berufung folgt aus § 64 Abs. 3 Nr. 1 ArbGG. Die Rechtssache hat grundsätzlich Bedeutung, da es sich um eine klärungsbedürftige Rechtsfrage handelt. Die Kammer ist mit ihrer Entscheidung von der Rechtsprechung des BAG (BAG v. 24.2.2022 - 6 AZR 333/21; BAG v. 7.2.2019 - 6 AZR 75/18) bzgl. des Gebots des fairen Verhandelns dahingehend abgewichen, dass sie es für notwendig ansieht, in Ausnahmefällen eine gewisse Bedenkzeit, verbunden mit einem Hinweis darauf, einzuräumen.

Mehr zum Thema:

Kurzbeitrag:
BAG: Reichweite des Gebots fairen Verhandelns beim Aufhebungsvertrag, ArbRB 2022, 65

Rechtsprechung:
Unwirksamkeit eines Aufhebungsvertrags bei Missachtung des Gebots fairen Verhandelns,
BAG vom 07.2.2019 - 6 AZR 75/18, Patrick Esser, ArbRB 2019, 164

Aufsatz:
Was ist mit „fairem Verhandeln“, wenn der Aufhebungsvertrag unter Druck unterzeichnet wird? AA 2022, 64

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 28.06.2022 13:45
Quelle: Justiz Baden-Württemberg online

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